Zeiteinteilung und -messung im Ländlichen Europa vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert

20. Oktober 2016 bis 21. Oktober 2016
Tagung
Allgemeine Problematik In der Historiographie Europas steht die wirtschaftliche und soziale Geschichte des Begriffs «Zeit» eng mit den Städten, der Elite, den vorindustriellen Milieus und dem Handel im Zusammenhang. Zudem tendieren die meisten Forschenden dazu, der modernen Art und Weise der Zeitauffassung, des Zeiterlebens und der Zeitmessung, die sich ab dem Mittelalter abzeichnet, den Vorzug zu geben. So gerechtfertigt diese Fokussierung auch sein mag – sie hatte zur Folge, dass die anderen Milieus mit ihrer eigenen Art und Weise zu denken, die Zeit einzuteilen und zu messen, von den Historikern weitgehend außen vor gelassen wurden. Das gilt insbesondere für die Bauern und das ländliche Milieu, obschon diese grundlegende Bestandteile der europäischen Zivilisation sind. Mit diesem Symposium wollen wir diese Lücke schliessen, indem wir anhand von Beispielen zeigen, dass das Land den Städten in Sachen Arbeitseinteilung und in Bezug auf das subtile Zusammenspiel von Moment, Ort und Individuum in nichts nachsteht. Drei Themen I: Zeitmanagement im ländlichen Europa Zeit steht auf dem Land sehr eng mit verschiedenartigen Tätigkeiten im Zusammenhang, die ein komplexes System bilden, unterschiedlich lange, oft gleichzeitig und im selben Raum ausgeübt werden, Vergangenheit und Zukunft miteinbeziehen und starken menschlichen und umweltrelevanten Einschränkungen unterworfen sind. Wie ist das Leben der Menschen, ihrer Tiere und Pflanzen organisiert und wie lassen diese verschiedenen Leben sich koordinieren ? Wie spielt man mit der Zeit, um die Spannung zwischen zusammenfallenden Tätigkeiten abzubauen und sich mögliche Synergien zunutze zu machen ? Es gibt zahlreiche Ansätze, um die damaligen ländlichen Tätigkeiten neu zu betrachten. - Die Wichtigkeit einer bestimmten Tätigkeit im individuellen und kollektiven «Zeitbudget» abschätzen; störende und mögliche fördernde Faktoren berücksichtigen; die Herausforderungen und Prioritätenebenen bestimmen; die Verbindungen zu den wirtschaftlichen, sozialen und umweltrelevanten Strukturen erfassen. - Möglichkeiten zum Einsparen von Zeit und damit Kraft ausfindig machen, die von einem Willen zur Rationalisierung der Tätigkeiten zeugen. Dafür gibt es zahlreiche Strategien wie eine Begrenzung der zurückgelegten Wegstrecken oder Umsiedlungen, Aufgabenteilung oder die gemeinsame Durchführung von Aufgaben, Verbesserung der Techniken und Geräte. - Das Spannungsfeld zwischen dem unterschiedlichen Zeitbedarf eines Viehzüchters und Landwirts, eines Herren und Bauern, eines Land- und Stadtbewohners zwischen Erwerbsleben und religiösen Verpflichtungen untersuchen. - Breiter gefasst: auf lange Sicht und unter Berücksichtigung der verschiedenen geohistorischen Kontexte die Auswirkung der zunehmenden Komplexität der agropastoralen Praktiken und der Entwicklung der sozialen Rahmenbedingungen auf den «Zeitbedarf» evaluieren. II: Zeit bei den Bergbewohnern In den Bergen bieten die vertikalen Klimaunterschiede zusammen mit der Diversität der Bodenexposition und -beschaffenheit auf begrenzter Fläche einen Reichtum an Mikroumgebungen, von denen sich jede für eine ganz bestimmte Nutzungsweise eignet. Um allerdings in den Genuss der Vorteile gut gelegener Felder, Äcker, Weiden, Gärten und Weinberge zu kommen, muss ein Haushalt in Kauf nehmen, dass sein Gut über ein weitläufiges Gebiet verteilt ist – von der Talebene (Weinberge) über die verschiedenen Zwischenebenen mit ihren Ackerbau- und Heuflächen bis hin zu den Alpen mit ihren Weideflächen. Nebst genauen Kenntnissen der Potenzialitäten jedes einzelnen Landstrichs erfordert dies in Bezug auf den Zeitfaktor genaueste Kenntnisse der inneren Uhren der Pflanzen- und Tierwelt. Die Zerstückelung des Familiengutes erfordert, dass sich einzelne Mitglieder des Haushalts oder aber die ganze Familie immer wieder an andere Orte begeben müssen – eine zeitaufwändige Angelegenheit. Diese Bewegung kann nicht ohne eine Aufgabenteilung innerhalb des Haushalts oder ausgeweitet auf Eltern und Freunde, Nachbarn, Bekannte usw. erfolgen. In ihren grundlegenden Entscheidungen unterscheiden sich die wirtschaftlichen Praktiken der Bergbewohner nicht sonderlich von jenen der Talbewohner, daher haben sie auch einen relativ ähnlichen Zeitbedarf. Da das Bergmilieu allerdings in verschiedener Hinsicht komplexer ist, treten das Zeitmanagement, der damit verbundene nötige Einfallsreichtum und die entsprechenden Einschränkungen dort deutlicher hervor als anderswo. Doch es gibt noch einen weiteren Grund, einen genaueren Blick auf die Bergwelt zu werfen. Die wichtigsten Gebirgszüge Europas (Alpen und Pyrenäen) waren Schauplatz umfassender multidisziplinärer Forschungen, die über eine sehr lange Dauer angestellt wurden. Das bietet den Forschenden eine solide Grundlage, von welcher ausgehend Überlegungen zum Zeitbedarf und zu seiner langfristigen Entwicklung angestellt werden können. III: Die Verbreitung der Uhr im ländlichen Europa In Bezug auf die gängige Historiographie von «Zeit» stellt die Präsenz der Uhr im früheren ländlichen Europa eine Anomalie dar. Wozu dieses Gerät, das dem Zählen und Ansagen der Stunden dient, in einer Welt, die als das Paradies der flexiblen Zeitlichkeit gilt ? Wozu dieses Gerät, welches das Jahr in gleichartige Stunden schneidet, in einer Welt, die vom unregelmässigen Lauf der Sonne und den Jahreszeiten geprägt ist ? Und schliesslich – wozu dieser Inbegriff von Stadt, vom wachsenden Staat und von der sich ankündigenden Moderne in einer Welt, die als konservativ und starr gilt ? Statt diese Anomalie zu ignorieren, sollten wir uns das stimulierende Enigma, zu dem diese Fragen führen, zunutze machen, um unseren Blickwinkel auf die Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des ländlichen Europas, aber auch die Geschichte der Techniken und der Verbreitung dieser Neuerung, die Geschichte der Uhr selbst, zu hinterfragen. Wir schlagen vor, dies auf zwei Ebenen anzugehen: - Eine Chronologie und Geographie der Präsenz der Uhr im ländlichen Europa umreissen. Parallel dazu die Mittel und Wege zur Messung von «Zeit» vor der Einführung der Uhr erfassen, die lange noch neben ihr bestanden haben. Versuchen, diese Beobachtungen zu interpretieren, indem die Faktoren erfasst werden, mit denen sich eine solche geographische oder eben chronologische Verteilung erklären lässt: Verbindungen (oder nicht) zu den Städten, Anbindungen an Handelsstrassen, die protoindustriellen Tätigkeiten usw. Ein Augenmerk darauf richten, was uns all das zum Landleben, zu den Landbewohnern und ihrer Kultur sagen kann. - Konkrete Fälle von Uhren auf dem Land aufzeigen, anhand derer sich viel über die Initianten, die institutionelle Einführung der Uhr und ihre Finanzierung, über die Uhr selbst, ihre Verwendung im Alltag und ihre Geschichte, über jene, die sie warten, verwenden – aber auch über jene, die ihre Zweifel an ihr hegen und sie nicht wollen – herausfinden lässt. Praktische Angaben Dieses Symposium wird von der Universität Lausanne (Philosophisch-historische Fakultät, Abteilung Geschichte), vom Kanton Wallis (Dienststelle für Kultur, Staatsarchiv Wallis und Mediathek Wallis) und von der Schweizerischen Gesellschaft für ländliche Geschichte organisiert. Es wird am 20. Oktober 2016 in der Universität Lausanne und am 21. Oktober 2016 in Les Arsenaux in Sitten stattfinden. An einem Beitrag Interessierte werden gebeten, ihren Vorschlag (Titel und Zusammenfassung) bis zum 30. April 2016 an eine der folgenden Adressen zu schicken: pierre.dubuis@unil.ch, oder sandro.guzzi-heeb@unil.ch. Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren ! Wir beantworten gerne all Ihre Fragen und stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung.
Organisiert von
Universität Lausanne (Philosophisch-historische Fakultät, Abteilung Geschichte), Kanton Wallis (Dienststelle für Kultur, Staatsarchiv Wallis und Mediathek Wallis), Schweizerischen Gesellschaft für ländliche Geschichte

Veranstaltungsort

Universität Lausanne
Unicentre
1015 
Lausanne