Wenn Wildtiere verschwinden. Jagd und Wild in der Geschichte der Schweiz 1798-1970.

AutorIn Name
Raphael
Schmid
Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Pfister
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2008/2009
Abstract


In Zeiten, in denen das konfliktträchtige Thema Jagd und Wild emotional diskutiert wird, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Ansiedlung des Luchses und der punktuellen Einwanderung von Bär und Wolf, leistet die historische Erforschung der Jagd und der Jagdkultur in ihrer Bedeutung für das Management von Wildbeständen einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion. Umstritten ist, inwieweit auffällige Schwankungen von Wildpopulationen durch die Jagd bedingt sind und andere Ursachen – insbesondere Veränderungen der Lebensräume und klimatische Anomalien – eine Rolle spielen. Die empirisch belegbaren ökologischen Wirkungen und die sozio-kulturellen Motive der Jagd sind bis heute von der Geschichtswissenschaft wenig untersucht worden.

Mit der vergleichenden historischen Erforschung der aargauischen Revierjagd und der bündnerischen Patentjagd unter Einbezug der eidgenössischen Jagdgesetzgebung (ab 1875) wurde das wechselseitige Wirkungsgefüge von naturräumlichen, naturhistorischen und kulturhistorischen Faktoren ins Zentrum gerückt, in welchem der Problemkreis von Wild und Jagd einzuordnen ist. Dazu wurden wichtige aargauische und bündnerische Jagdstrecken seit Beginn der Streckenerfassungen gesammelt und mit anderen historischen Quellen verglichen. Methodisch wurde der gängige historisch-quellenkritische Ansatz mit rudimentären, quantitativen Methoden zur Analyse von Jagdstatistiken kombiniert

Ergebnisse
Die hier skizzierte Forschung zur historischen Jagd ist an der Schnittstelle von ökologischen, kulturellen und ökonomischen Systemen einzuordnen, über die der wirtschaftende Mensch in seine natürliche Umwelt eingreift. Das Themenfeld weist eine Vielzahl von ökologischen, biologischen, technischen, ökonomischen, sozialen, politischen, ethischen und weiteren Fazetten auf, die in ihrem vollen Umfang nicht ausgelotet werden können. Um dennoch ein ausreichendes Verständnis der untersuchten Prozesse zu gewinnen, wurde eine integrierte historische Analyse der Wechselwirkungen zwischen ökologischen und ökonomischen Prozessen angestrebt. Bei den unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen und -kulturen von Ökonomie und Ökologie stellte dies eine besondere Herausforderung dar. Entsprechend wurden zwei unterschiedliche Ansätze gewählt. Der eine folgt den Interaktionen zwischen biotischen und abiotischen Faktoren und bewegt sich im Wirkungsgefüge von Ökosystemen nahe bei den naturwissenschaftlichen Disziplinen. Der zweite, wirtschafts- und technikgeschichtliche Ansatz thematisiert Störfaktoren und Nebenwirkungen, die sich aus dem wirtschaftlichen Prozess der Naturaneignung ergeben.

Es gelang u.a. eine erste, fundierte und übergreifende historische Übersicht über die wechselseitige Beeinflussung des jagenden Menschen und der wichtigsten bejagten Wildtierarten der Schweiz nachzuzeichnen. Zusammenfassend lässt sich die Geschichte der Jagd in der Schweiz im Verlaufe der Untersuchungsperiode in die folgenden fünf Entwicklungsphasen gliedern:
1. Bis 1798: Die meisten wildlebenden Tierarten waren bei zunehmendem Jagddruck in kleinen Populationen heimisch.

2. 1798-1850: In dieser Periode vielfältiger Umbrüche wurden die geringen Nutzwildpopulationen – im speziellen die Paarhufer – bis an die Grenze der Ausrottung und darüber hinaus bejagt. Dazu trugen lockere Gesetze, überzogene Freiheitsvorstellungen ebenso bei wie die Verbreitung wirksamerer Feuerwaffen. Nicht zuletzt litten die einheimischen Paarhufer unter den neuen landund forstwirtschaftlichen Bewirtschaftungsformen, die sich im Gefolge der Agrarmodernisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausbreiteten. Die Waldweide dominierte und zahlreiche Produkte des Waldes wie Streu und Brennholz wurden eifrig genutzt. Bevölkerungswachstum und die Liberalisierung förderten die individuelle Nutzung des Waldes und der Weiden. Diese zogen tief greifende Veränderungen der Biotope und Habitate nach sich. Die Wiesenflächen nahmen auf Kosten des Waldes zu. Von den in der Schweiz heimischen fünf Schalenwildarten wurden Steinbock und Rothirsch ausgerottet, Wildschwein und Reh auf kleine Restbestände entlang der nördlichen Landesgrenze und die Gämse auf kleine Rudeln in abgelegenen Alpentälern beschränkt. Mit dem Verschwinden der meisten Paarhufer verlagerten die grossen Carnivoren Bär, Wolf und Luchs ihr Beutespektrum auf Haustiere. Aufgrund dieses geringen Hochwildbestandes verschafften sich die Jäger ihr Jagdvergnügen im Bündnerland und im Aargau – parallel zur Vervollkommnung der Feuerwaffen – zumeist durch Einzeljagden, im Aargau zudem durch kleine Treibjagden.

3. 1830-1904: Der sich verschärfende Konflikt zwischen den grossen Beutegreifern und den Haustieren endete, mit Ausnahme des Steinadlers, in der Ausrottung von Bär, Wolf, Luchs und Bartgeier. Neben der intensiveren Bejagung fielen die Grösse der Wildbestände sowie die klimatischen und die edaphischen Faktoren schwer ins Gewicht. Die Meinung, Wolf, Bär und Luchs seien als Folge einer direkten Bejagung als Standwild verschwunden, lässt sich nicht halten. Die Nutzwildarten stellten die Behörden aus wirtschaftlichen Motiven mit der Einführung strengerer Jagdgesetze unter teilweisen Schutz. Die im ausgehenden 19. Jahrhundert beginnenden Naturschutzbestrebungen, die quantitative wie auch qualitative Verbesserung der Wälder durch nachhaltige Nutzung und bewusste Bewahrung der natürlichen Vegetationskraft des Waldes und die jagdlich motivierte, aktive menschliche Hilfe, ermöglichte es den Schalenwildarten ihr angestammtes Territorium wieder zu besiedeln.

4. 1880-1950: Dem Eigennutz der Jagd entsprechend etablierte sich neben einer blossen Bejagung des Wildes die Hege der jagdlich interessanten Wildarten, dies vor dem Hintergrund des verpflichtenden Ideals der Weidgerechtigkeit. Die als „nützlich“ eingestuften Wildarten wie Paarhufer und Hasen vermehrten sich aufgrund der Hege, der vorerst zunehmend wildfreundlicheren Habitatsveränderungen infolge hohem, leicht zugänglichem Grünlandanteil und steigender Waldrandlänge und –fläche, strengerer Jagdgesetze und Kurzhaltung ihrer natürlichen Feinde. Klagen infolge überhöhter Schalenwildbestände und hoher Wildschäden häuften sich. Vereinzelte Klagen wegen abnehmendem Feldhasenbestand wurden ab den 1940er Jahren hörbar. Das Bestreben, die grossen Beutegreifer zu vernichten respektive ihre Einwanderung zu unterbinden, ging weiter.

5. Seit 1950 wurden die grossen Beutegreifer geduldet, geschützt und letztlich gefördert. Die Feldhasenbestände gingen markant zurück. Erste Stimmen forderten eine Reduktion des Schalenwilds im Sinne einer Anpassung der Bestände an den Lebensraum.

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