Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2022/2023
Abstract
Zwischen 1942 und 1945 fällten Schweizer Militärgerichte 33 Todesurteile, wovon 17 vollsteckt wurden. 15 Todesurteile wurden in Abwesenheit der Angeklagten gefällt, ein Verurteilter wurde begnadigt. Sämtliche Todesurteile erfolgten aufgrund von Militärspionage zu Gunsten des nationalsozialistischen Deutschlands. Ausgehend von einem Verständnis, welches das Recht als kulturelle und soziale Kategorie auffasst, machte dieses Forschungsprojekt die militärjuristischen Hinrichtungen während des Zweiten Weltkrieges zur Ausganglage einer historischen Betrachtung der Todesstrafe, welche konkrete Fragen rund um diese Exekutionen mit einer Analyse längerfristiger Entwicklungen verband. Das Haupterkenntnisinteresse richtete sich dabei auf die Beweggründe und Legitimationen für diese Hinrichtungen, fragte wer davon betroffen war sowie welche Bedeutungen diese Todesstrafen für die Gesellschaft hatten. Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurden verschiedene Archivbestände ausgewertet, insbesondere Akten der Militärjustiz sowie weiterer militärischer und politischer Institutionen im schweizerischen Bundesarchiv. Die kombinierte Betrachtung der militärstrafrechtlichen und der zivilstrafrechtlichen Todesstrafe über einen längeren Zeitraum hat sich als fruchtbar erwiesen, um die Fragen nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Geschichte der Todesstrafe zu beantworten. Die 17 Hinrichtungen innerhalb von wenigen Jahren und auf Basis des Militärstrafgesetzbuches (MStG) waren ein einmaliges Phänomen in der Geschichte des schweizerischen Bundesstaates. Seit 1848 gab es ansonsten keine militärgerichtlichen Exekutionen. Und seit 1879 wurden bis zum Inkrafttreten des bürgerlichen Strafgesetzbuches (StGB), das die Todesstrafe im zivilen Bereich ab 1942 bundesweit untersagte, lediglich 9 Hinrichtungen vollzogen. Die kombinierte Analyse der Entstehungsgeschichte des MStG 1927 und des StGB 1938 zeigte, dass beide Gesetzbücher als Produkt desselben Entwicklungsprozesses gesehen werden müssen. Auch der Umgang mit der Todesstrafe wurde in beiden Gesetzbüchern massgeblich von denselben politischen und juristischen Akteuren geprägt. Die vorherrschende Auffassung war, dass die Todesstrafe in Friedenszeiten sowohl im StGB als auch im MStG (inklusive juristischen Aktivdienstzeiten) nutzlos und verwerflich sei. Für den Kriegsfall wurde die Todesstrafe im MStG 1927 jedoch als Möglichkeit beibehalten, weil diese Strafe für die Disziplinierung von Soldaten mit Todesangst an der Front im Vergleich zu einer lebenserhaltenen Freiheitsstrafe als effektiver angesehen wurde. Ausserdem waren Juristen, Offiziere und Politiker in der Zwischenkriegszeit der Ansicht, die Soldaten und die Bevölkerung würden nicht verstehen, wenn Saboteure, Spione und «Landesverräter» in Kriegszeiten nicht hingerichtet würden, da deren Delikte in Kriegszeiten das Leben anderer sowie das Überleben der Nation gefährdeten. Ende Mai 1940 erfolgte die im ordentlichen Gesetz nicht vorgesehene Inkraftsetzung der Todesstrafe für Spionage- und Sabotagedelikte durch eine bundesrätliche Vollmachtenverordnung. Im April und Mai 1940 herrschte in der Schweiz – auf allen Ebenen – die Angst vor einem deutschen Angriff vor, der in Verbindung mit Sabotage, Spionage und Verrat von bisher unbekanntem Ausmass imaginiert wurde. Unter diesen – als neuartig wahrgenommenen – Umständen, erhofften sich einige militärische Akteure von der Todesstrafe eine zusätzliche Abschreckungswirkung. Insbesondere erhofften sich die an der Inkraftsetzung der Todesstrafe Beteiligten aber eine positive Wirkung auf die Bevölkerung und die Soldaten, weil die Todesstrafe die entschlossene Verteidigungsbereitschaft politischer und militärischer Landesvertreter zum Ausdruck bringen sollte. Die als nützlich beurteilte Todesstrafe war auch in der Zwischenkriegszeit bei militärischen, juristischen und politischen Akteuren mehrheitsfähig. Verändert haben sich 1940 nicht in erster Linie die Konzeptionen oder der Einfluss unterschiedlicher Akteure, sondern die Situation und ihre Wahrnehmung. Nach der Inkraftsetzung der militärstrafrechtlichen Todesstrafe vergingen mehr als zwei Jahre bis zu ihrer erstmaligen Anwendung im Herbst 1942. Die deutsche Militärspionage gegen die Schweiz intensivierte sich ab Sommer 1940. Erst ab Ende 1941 wurden die ersten grösseren Spionageringe aufgedeckt, ihre Aburteilung nahm 1942 sukzessive zu, erreichte den quantitativen Höhepunkt aber erst im Jahr 1944. Aufgrund der sich mehrenden Spionageurteile verstärkte sich die Presseaufmerksamkeit für diese Fälle, die ganz überwiegend deutsche Spionage gegen die Schweiz betrafen. Als Anfang 1942 publik wurde, dass in einem geheimen Spionageprozess verurteilte Frontenführer nach Deutschland hatten fliehen können, weil sie auf Kaution freigelassen worden waren, verstärkte sich die Kritik an den militärischen und auch politischen Behörden nachhaltig. Der auch ins bürgerliche Lager sich ausbreitende Vorwurf lautete, die verantwortlichen Behörden und namentlich die Militärjustiz agierten gegenüber Frontisten und Nationalsozialisten mit unverantwortlicher Zurückhaltung. In diesem Kontext hielt der höchste Militärjurist die militärischen Grossrichter im Sommer 1942 dazu an, nun Todesurteile auszusprechen. Bei unterschiedlichen Akteuren finden sich verschiedene Beweggründe zur Befürwortung der Todesstrafe, beispielsweise Rachemotive oder die Hoffnung auf eine Abschreckungswirkung. Der zentrale Beweggrund für die einflussreichsten Akteure wie den Armeeauditor oder den General war aber die anhand der Todesurteile symbolisierte Botschaft an die Bevölkerung und die Soldaten, dass die Militärjustiz gegen die gefährliche deutsche Spionage entschlossen durchgreife. In der Folge wurden zwischen 1942 und 1944 16 Schweizer und ein Liechtensteiner als «Landesverräter» hingerichtet. Eine Analyse von 344 militärgerichtlichen Spionageurteilen zeigte, dass Deutsche nie hingerichtet wurden, obschon sie verschiedentlich schwerwiegender delinquiert hatten als exekutierte Schweizer. Bei sehr schwerwiegenden Tatbeständen wurden nicht nur Schweizer aus den unteren Schichten zum Tod verurteilt und hingerichtet. Unterschichtsangehörige wurden aber für verhältnismässig geringfügige Delikte hingerichtet, während Schweizer aus höheren Schichten für vergleichbare Tatbestände nicht zum Tod verurteilt wurden. Alle zum Tod Verurteilten waren Männer. Von den rund 10 % weiblichen Verurteilten delinquierten zwar einige wenige Schweizerinnen in einem Ausmass, das bei Schweizern zumeist ein Todesurteil zur Folge hatte, doch wurden sie aufgrund ihres Geschlechts nicht zum Tod verurteilt. Im Herbst 1942 dominierten die ersten Todesurteile über Wochen die öffentlichen Debatten in der Schweiz und mindestens 30 verschiedene Pressorgane befürworteten in redaktionellen Stellungnahmen die bevorstehenden Hinrichtungen. Vor den ersten Begnadigungsentscheiden der Vereinigten Bundesversammlung sprachen sich auch Autoritäten wie General Henri Guisan, der Theologe Emil Brunner oder der Gesamtbundesrat öffentlich für den Vollzug der Todesurteile aus. Auch das Parlament stimmte den Exekutionen grossmehrheitlich zu. Aufgrund der breiten Zustimmung zu den Hinrichtungen entwickelte sich die Selbstlegitimation von politischen und militärischen Akteuren anhand der Befürwortung der Hinrichtungen und der damit gekoppelten Widerstandsbereitschaft zu einer nationalen Integration ex negativo. Da die Botschaft eines entschlossenen Durchgreifens gegen Frontismus und deutsche Spionage ein zentraler Beweggrund für die Anwendung der Todesstrafe war und diese Botschaft von der Presse und laut militärischen Erhebungen auch von der breiten Bevölkerung in der gewünschten Form aufgefasst wurde, hielten die Hinrichtungen bis im Dezember 1944 an. Dies geschah, obschon gut informierte Politiker und Offiziere wussten, dass die deutsche Militärspionage seit Sommer 1942 stark reduziert und ab Sommer 1943 weitgehend eingestellt worden war.