Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Gerlach
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2021/2022
Abstract
Tierversuche waren ein Thema, dass die Tierschützer*innen in der Schweiz bereits in den 1870er Jahren in ein gemässigtes und ein radikales Lager zu spalten vermochte. Nachdem es lange Zeit ruhig blieb um die Tierversuche, wurde die Diskussion in den 1970er Jahren wieder aufgenommen und in den 1980er Jahren verstärkt in der breiten Öffentlichkeit geführt. Der sozialhistorische Kontext dieser Zeit war geprägt durch kontinuierlichen technologischen und wirtschaftlichen Fortschritt. Dieser brachte auch Unsicherheiten und Zukunftsängste mit sich, die in Zurück-zur-Natur-Rufen ihren Ausdruck fanden. Die Frage nach dem richtigen Umgang des Menschen mit seiner Umwelt führte auch zur Frage nach dem Umgang mit seinen Mitgeschöpfen. Die Tierversuche wurden zum Sinnbild einer zügellosen Ausbeutung und Zerstörung der Natur durch den Menschen.
Die Masterarbeit zeigt einerseits auf, was für Tierversuche in der Schweiz in den 1970er und 1980er Jahren von wem durchgeführt wurden. Anderseits wird der Frage nachgegangen, wer die Tierversuchsgegner*innen waren, wie sie in Beziehung zueinander standen, welche unterschiedlichen Argumente und politischen Aktionsformen sie verwendeten und was für Spannungen und Konflikte dabei entstanden.
Dabei wird ein interdisziplinärer Ansatz verfolgt, der als politische Sozialgeschichte verstanden werden kann und der nebst politikwissenschaftlichen Konzepten auch soziologische und ferner kommunikationswissenschaftliche Ansätze miteinfliessen lässt. Es finden Analyseinstrumente der sozialen Bewegungsforschung Verwendung, die bisher von der sozialgeschichtlichen Forschung wenig beachtet wurden. Mit Konzepten, die spezifisch auf die Neuen Sozialen Bewegungen abgestimmt sind, werden die organisationalen Strukturen, politischen Handlungsrepertoires und Beziehungsnetzwerke der Tierschutzorganisationen sowie die zugrunde liegenden Spannungsverhältnisse aufgedeckt.
Die verwendeten Quellen stammen alle aus dem bisher ebenfalls wenig beachteten Privatarchiv des Schweizer Tierschutzes (STS). Neben einer Sammlung der Vereinszeitschrift wurden auch zehn Ordner zum Thema Tierversuche nach relevanten Dokumenten durchsucht. Die Quellen besitzen grosses Potential zur weiteren Erforschung des Tierschutzes in der Schweiz.
Die Spaltung der Tierschutzorganisationen in ein gemässigtes und ein radikales Lager zeigt sich auch in den 1970er und 1980er Jahren. Die Radikalen setzten sich zum Ziel, Tierversuche komplett abzuschaffen, während die Gemässigten den pragmatischen Weg einer Reduzierung verfolgten.
Obwohl sich beide auf umweltschützerisches Gedankengut stützten, unterschieden sie sich doch sehr stark hinsichtlich Ideologie und daraus resultierenden politischen Aktionsformen. Die Radikalen beschworen mittels einer polarisierenden Ideologie einen Entweder-oder-Konflikt herauf, bei dem die chemisch-pharmazeutische Industrie und die gemässigten Tierschützer*innen als böse Mächte hochstilisiert wurden. Dabei folgten sie einer Logik des Konflikts und des Aktivismusʼ, wie sie für soziale Bewegungen typisch sind. Die Gemässigten rund um den STS hingegen waren geprägt durch eine Logik der Zusammenarbeit und der Repräsentation.
Der STS als alteingesessene Tierschutzorganisation war weitgehend institutionalisiert und hatte Zugang zu den neokorporativen Machtstrukturen. Die Radikalen versuchten dieses Defizit mittels einer Inszenierung des Politischen, die in einer polemischen Sprache und militanten Aktionen ihren Ausdruck fand, zu substituieren. Der STS anderseits griff vorwiegend auf institutionelle Taktiken zurück, nahm etwa an Eidgenössischen Kommissionen teil oder versuchte in der internationalen Tierschutzpolitik Veränderungen anzustossen, was mit einer ab den 1970er Jahren zunehmende Internationalisierung des Tierschutzes zusammenhing.
Die Tierversuchsgegner*innen befanden sich in einem Spannungsfeld, das durch die Tierschutzorganisationen, deren Mitglieder, die Machtträger*innen und ferner die Medien und die Öffentlichkeit definiert wurde. Es wurden einerseits Allianzpartnerschaften geschmiedet, anderseits Kontroversen ausgetragen, wobei die Konflikte zwischen den Gemässigten und den Radikalen besonders heftig waren.
Spannungsverhältnisse zwischen Lokalismus und Globalisierung, Aktivismus und Repräsentation, Zusammenarbeit und Konflikt stellen charakteristische Elemente dar, die in der Forschungsliteratur der Umweltbewegung zugeschrieben werden, aber auch auf die Tierschutzbewegung zutreffen. Es wird argumentiert, dass die Tierschutzbewegung der 1970er und 1980er Jahre als eine von der Umweltbewegung unabhängige Neue Soziale Bewegung verstanden werden kann, deren Entstehung durch den sozialhistorischen Kontext begünstigt wurde und die durch das offene politische System der Schweiz geprägt war.