Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Stig
Förster
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2016/2017
Abstract
Der Russlandfeldzug Napoleons von 1812 stellte den Abschluss einer Entwicklung während der Koalitionskriege (1792-1815) dar, in deren Verlauf die Kriege immer erbitterter geführt wurden und in ihren Ausmassen zunahmen. Diese Entwicklung interpretierte u.a. der britische Historiker David Bell dahingehend, dass die Koalitionskriege den ersten totalen Krieg der Geschichte darstellten. Allerdings untersucht Bell dabei vor allem Kriegsschauplätze in Westeuropa.
Der Begriff des totalen Krieges ist für die Geschichtswissenschaft nicht ganz unproblematisch. Da es keine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs gibt, herrscht in der Forschung auch keine Einigkeit darüber, was genau unter einem totalen Krieg zu verstehen ist, und welche Kriege als totale Kriege zu betrachten sind und welche nicht. Des Weiteren ist es im Fall dieser Arbeit auch nicht unproblematisch, einen Begriff, der während des Ersten Weltkriegs aufkam, auf einen Krieg anzuwenden, der rund hundert Jahre vorher stattfand.
Um dieses Problem zu umgehen, wird der Begriff in der Arbeit als ein analytisches Hilfsmittel verwendet, um Tendenzen hin zum totalen Krieg in dieser frühsten Phase der modernen Kriegsführung auszumachen.
Ziel der Arbeit ist es dabei also nicht, den Krieg von 1812 eindeutig als totalen Krieg auszuweisen oder dies zu widerlegen, sondern aufzuzeigen, welche Tendenzen, aber auch Gegentendenzen hin zum Idealtypus des totalen Krieges sich in der russischen Kriegsführung jenes Jahres ausmachen lassen.
Deutlich lässt sich feststellen, dass Napoleon 1812 keinen totalen Krieg führen wollte. Im Gegenteil, Napoleon strebte einen raschen Sieg an, um sich danach wieder seinem vermeintlichen Hauptgegner, Grossbritannien, widmen zu können. Deshalb und weil der Feldzug aus französischer Sicht schon eingehendst erforscht ist, untersucht diese Arbeit den Krieg aus russischer Perspektive. Als Basis für die Untersuchung dienten dabei neben gedruckten Quellen der russischen Entscheidungsträger auch die Ergebnisse der vorhandenen Sekundärliteratur.
Entsprechend den Bemühungen der Historiker Roger Chickering und Stig Förster, Elemente des totalen Krieges zu bestimmen, wurde dabei unter folgenden Aspekten der russischen Kriegsführung nach totalen Tendenzen, aber auch nach Gegentendenzen, gefragt: Kriegsziele, Kriegsführung, Mobilisierung, Kontrolle sowie die Verwischung der Trennlinie von Kombattanten und Zivilisten.
Die Untersuchung dieser Faktoren ergab ein ambivalentes Bild der russischen Kriegsführung. Zar Alexander I. und seine Untergebenen verfolgten zunächst eine defensive Strategie, mit der Zielsetzung, den Krieg auf keinen Fall zu verlieren. Allerdings lehnte die russische Führung dabei zu jeder Zeit Kompromisse und Friedensverhandlungen mit dem Gegner ab. Je stärker sich der Krieg zu russischen Gunsten entwickelte, desto ambitionierter wurden die russischen Kriegsziele und Alexander begann, den Sturz von Napoleon anzustreben. Im Falle der Kriegsziele kann man also von einer Radikalisierung sprechen.
Bei der Kriegsführung ergibt sich ein noch ambivalenteres Bild. Die von der russischen Armee verfolgte Taktik der verbrannten Erde, der brutale Partisanenkrieg, der eine starke Involvierung der Zivilbevölkerung mit sich brachte, und der brutale Umgang mit Kriegsgefangenen verdeutlichen zwar, mit welcher Rücksichtlosigkeit dieser Krieg geführt wurde, allerdings war die russische Führung stets darum bemüht, die Kontrolle über die Ereignisse zu behalten und war stets um die Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung bemüht. Aus diesem Grund wurde die Bewaffnung der Leibeigenen unterbunden. Der Aufruf zum Volkskrieg war folglich vor allem Propaganda, um den Adel für die Kriegsanstrengungen zu mobilisieren. Die Mobilisierung von Truppen lief in der Tat ab wie schon im 18. Jahrhundert, und auch auf eine Öffnung des Offizierscorps für Nichtadelige wurde verzichtet.
Auch die Mobilisierung der Wirtschaft verlief noch in den Bahnen des 18. Jahrhunderts, wenn auch in gesteigerter Qualität. Das Zarenreich war in der Lage, die gestiegene Nachfrage der Armee weitgehend mit konventionellen Methoden zu decken. Angesichts der grossen Strecken und der Rückständigkeit der russischen Industrie wäre eine stärkere Mobilisierung auch gar nicht möglich gewesen. Eine stärkere Mobilisierung der russischen Wirtschaft und auch eine zentralistischere Kontrolle der Kriegsanstrengungen war unter den vorindustriellen Bedingungen nicht möglich.
Insgesamt ergibt sich also ein ambivalentes Bild der russischen Kriegsführung, in der Tendenzen hin zum totalen Krieg neben traditionellen Formen der Kriegsführung des 18. Jahrhunderts stehen. Gerade dieses Nebeneinander von Altem und Neuem kann aber als ein charakteristisches Merkmal der Koalitionskriege als Phase des Übergangs hin zum modernen Krieg gesehen werden.