Schweizer Zivilluftfahrt 1945-2000: Flottenpolitik und Netzwerke am Beispiel der Swissair

AutorIn Name
Juri
Jaquemet
Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof. Dr.
Christian
Rohr
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2011/2012
Abstract
Die Dissertation, die so wie auch diejenigen von Sandro Fehr (siehe Berner Historische Mitteilungen 2012) und Benedikt Meyer (siehe in diesem Band) im Rahmen eines SNF-Projekts zur Geschichte der Schweizer Zivilluftfahrt entstand, hat das Ziel, abseits von populärund pseudowissenschaftlicher Sachbuchliteratur nach modernen wirtschafts-, umweltund verkehrsgeschichtlichen Ansätzen die Flottenpolitik und Netzwerke der Swissair bis zu ihrem Grounding (2001/2002) darzustellen. Jaquemets methodische und theoretische Anstösse stammen aus unterschiedlichen Richtungen der Geschichtswissenschaft. So musste für diese verkehrsgeschichtliche Arbeit auch auf die Technik-, Wirtschaftsund Unternehmensgeschichte, die Sozialgeschichte, die Umweltgeschichte, die Politikgeschichte und auf kulturgeschichtliche Ansätze zurückgegriffen werden. Zudem kommen theoretische Anleihen und methodische Anregungen aus gegenwartsbezogenen benachbarten wissenschaftlichen Disziplinen wie der Politologie und der Soziologie zum Zuge. Ein komplexes Phänomen wie die Zivilluftfahrt lässt sich nach Christoph Merki erst in einer interdisziplinären Sichtweise erschliessen und begreifen. Die Dissertation orientiert sich am Periodisierungsmodell der Industrieund Konsumgesellschaft. Die beinahe explosionsartige Zunahme des zivilen Luftverkehrs, als Teil des „1950er Syndroms“, wird aufbauend auf Christian Pfister mit folgenden Faktoren erklärt: V erbilligung des Kerosins; Verbesserung der Triebwerke, Deregulierung der Märkte. So dürfte etwa das billige Flugzeugbenzin und Kerosin der 1950er und 1960er Jahre die Umstellung auf Jet-Flugzeuge unterstützt haben. Dieser Wechsel gelang, obwohl die erste Jet-Generation – im Vergleich mit den letzten Kolbenmotorenmaschinen – massiv mehr Treibstoff verbrauchte. Ein höherer Treibstoffverbrauch konnte, wohl auch dank des billigen Kerosins, relativ problemlos verkraftet werden. Ebenfalls dienlich für diese Arbeit ist Patrick Kuppers „1970er Diagnose“, die sich an Pfisters „1950er Syndrom“ anlehnt. Die 1970er Diagnose steht für die umfassende Neudefinierung der Mensch-Umwelt-Beziehungen in den ersten Jahren nach 1970. Tatsächlich änderte sich in der Schweiz die gesellschaftliche Wahrnehmung um 1970 auch gegenüber den Flugzeugen. Besonders der erste Hauptteil der Arbeit zur Flottenpolitik der Swissair folgt einem verkehrsund technikgeschichtlichen Ansatz. In Anlehnung an Günter Ropohl werden beim Technikbegriff drei Dimensionen betont: Es sind dies die Artefakte selbst, deren Herstellung durch den Menschen und deren Verwendung im Rahmen des zweckorientierten Handelns. Auf letzterer Dimension ruht das Hauptaugenmerk im TechnikKapitel der Arbeit. Für den zweiten Hauptteil der Arbeit folgt der Autor dem Konzept „grosstechnischer Systeme“ des Technikhistorikers Thomas P. Hughes. Der Begriff des „grosstechnischen Systems – GTS“ eignet sich demnach zur Benennung jener extensiven soziotechnischen Systeme im Infrastrukturbereich, die sich auf der Grundlage einer jeweils spezifischen Technik gebildet haben. Die Entwicklung von grosstechnischen Systemen lässt sich anhand eines groben Phasenmodells konstruieren. Auf die Erfindung und Innovation, in der Initialphase, folgt eine Wachstumsund Konsolidierungsphase und schliesslich eine Stillstandsphase, die mit einem eventuellen Niedergang einhergehen kann. Grosse technische Systeme lassen sich weiter nach dem Grad ihrer territorialen Extension und V ernetzung unterscheiden. Die Zivilluftfahrt, als grosstechnisches System betrachtet, dürfte sich im Zeitraum 19452000 in der zweiten Phase befunden haben. Nach dem Konzept der grosstechnischen Systeme sind in dieser Wachstumsund Konsolidierungsphase die wichtigsten Promotoren durchweg ökonomische und/oder politische Akteure. Oft hat dabei der Staat ein Interesse an der Systementwicklung und es entstehen besondere Kooperationsformen zwischen Staaten, Banken und Unternehmen. Ausserdem greift der Staat gerne regulierend ein, beispielsweise durch Lizenzierung und Preiskontrolle. Diese Kooperationsformen lassen sich auch in der Schweizer Zivilluftfahrt finden. Der Autor analysiert diese Verstrickungen mittels einer Netzwerkanalyse für die Jahre 1946, 1957, 1980 und 2000, wobei er auf die Personen-Datenbank der „Faculté des Sciences sociales et politiques“ der Universität Lausanne zurückgreift. Im Zentrum der Untersuchung steht die Konzernführung der Swissair. Es wird untersucht, wie der Verwaltungsrat der Swissair mit Bundesämtern wie dem Eidgenössischen Luftamt, Kommissionen wie der Eidgenössischen Luftfahrtkommission, der Luftwaffe, dem Bund im Allgemeinen, den Kantonen, aber auch mit den Banken, der Industrie, der Wissenschaft, anderen Fluggesellschaften, den Aviatik-Verbänden und den Parteien vernetzt war. Zudem interessieren die Vernetzungen der Swissair-Konzernführung ins Ausland, etwa zu internationalen Zivilluftfahrtorganisationen wie der ICAO und der IATA sowie zu ausländischen Fluggesellschaften. Der Aufbau der Arbeit ist klar gegliedert. Nach der Einleitung mit einem Überblick über den Forschungsstand, die Quellenlage sowie die methodische V organgsweise folgt zunächst ein allgemeines Kapitel, das die technischen Entwicklungen in der Luftfahrtsgeschichte in einen internationalen Kontext stellt. Auch die Vernetzungen innerhalb der Zivilluftfahrt werden auf einer globalen Ebene erläutert. Diese Ausführungen dienen in erster Linie dazu, die beiden Hauptkapitel, die jeweils auf die Schweiz bzw. die Swissair fokussiert sind, in ein Beziehungsnetz zu stellen. Das detailreiche erste Hauptkapitel ist der Flottenpolitik der Swissair zwischen 1945 und 2000 gewidmet, wobei auch kurz auf die Schweizer Zivilluftfahrt in der Zeit davor eingegangen wird. Jaquemet untersucht, welche Flugzeugtypen von der Swissair angeschafft wurden, welche Flottenpolitik die Swissair betrieb, welche Parameter bei der Beschaffung wichtig waren bzw. ob sich diese im Laufe der Zeit änderten, weiter auf welche Flugzeuge verzichtet wurde und ob die Flottenbeschaffung von rein betriebswirtschaftlichen Überlegungen geprägt war oder auch die Politik und die internationalen Beziehungen der Schweiz eine Rolle spielten. Ausserdem interessiert ihn, wie sich die Reichweite, Reisegeschwindigkeit, Transportkapazität, das Cockpit, die Sicherheit und die Lebensdauer der Swissair Flugzeugflotte veränderten, welche Designmerkmale – etwa im Bezug auf die Passagierkabine – die Flugzeuge auszeichneten und wo die technikgeschichtlichen Zäsuren in der Schweizer Luftfahrt zu setzen sind. Ausführlich wird die Entwicklung von den Propellerflugzeugen der 1940er und 1950er Jahre über die ersten Jets der frühen 1960er Jahre bis hin zu den Mittelund LangstreckenGrossflugzeugen am Ende des Jahrhunderts nachgezeichnet. Auffallend ist dabei, dass zunächst vor allem Geräte der Firma Douglas im Einsatz waren und erst relativ spät – mit dem Ankauf der ersten Jumbo-Jets 1967 – Boeing ins Geschäft kam, während schlussendlich Flugzeuge aus der Airbus-Familie dominierten. Auf Überschallflugzeuge wie die Concorde wurde hingegen nach einer intensiven Diskussion verzichtet, ja es kam 1971 schliesslich zu einem Verbot ziviler Überschallflüge im Luftraum über der Schweiz. Der zweite Hauptteil ist den Vernetzungen rund um die Swissair gewidmet. Gefragt wird, welche Wechselwirkungen und gegenseitige Abhängigkeiten es zwischen dem Staat und dessen Institutionen, den Kantonen und Städten, dem Souverän, der Forschung und Entwicklung, der Privatwirtschaft, der Schweizer Luftwaffe und dem gewerblichen Schweizer Luftverkehr gab bzw. welche schweizerischen Institutionen und Personen bei diesen Vernetzungen grossen Einfluss hatten. Konkret bedeutet dies etwa, ob bzw. wie die Swissair auf Gesetze Einfluss nehmen konnte, wer Lizenzen oder Überflugsrechte vergab oder wer das Streckennetz bestimmte. Weiter interessiert, welche innenund aussenpolitischen Entscheidungen, Gesetze, Institutionen, V erträge, Geldgeber und V ernetzungen den gewerblichen Schweizer Luftverkehr nach 1945 prägten oder beeinflussten. Schliesslich geht es darum, welche Chancen und Risiken sich durch die schweizerische Luftfahrtpolitik für den gewerblichen Luftverkehr ergaben und welche Konsequenzen das Abseitsstehen der Schweiz im europäischen Integrationsprozess hatte. Wie im ersten Hauptkapitel erfolgt zunächst ein Rückgriff auf die Zeit von 1910 bis zum Abkommen von Chicago zum Weltluftverkehr von 1944. Die weitere Entwicklung wird in mehrere Perioden geteilt: die unmittelbare Nachkriegszeit bis 1951, die vor allem von der Einflussnahme des Bundes inderPersonvonBundesratEnricoCeliogeprägt war, den Beginn eines regelmässigen Interkontinentalverkehrs brachte und in der die Swissair zu einer nationalen Luftverkehrsgesellschaft gemacht wurde; die Ära des Direktionspräsidenten Walter Berchtold (1950-1970), unter dem 1952 eine neue Unternehmensstruktur geschaffen wurde und das Swissair-Netzwerk national und international stark ausgebaut wurde; die Zeit der Swissair-Chefs Armin Baltensweiler (19721982), Robert Staubli (1982-1988) und Otto Loepfe (1988-1996). Ein Epilog behandelt die Zeit bis zum Grounding im Oktober 2001 bzw. März 2002, auf das aber nicht mehr im Detail eingegangen wird. Leicht überarbeitete Fassung online verfügbar unter http://boris.unibe.ch/77783/.

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