Panel: Wissen und Macht in gelehrten Sozietäten (18.-19. Jahrhundert)

Autor / Autorin des Berichts
Katrin Müller, Universität Basel
Zitierweise: Müller, Katrin: Panel: Wissen und Macht in gelehrten Sozietäten (18.-19. Jahrhundert), infoclio.ch Tagungsberichte, 2016. Online: infoclio.ch, <http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0123>, Stand:


Verantwortung: Simona Boscani Leoni
Referierende: Sebastian Kühn / Sarah Baumgartner / Fabio Rossinelli

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Welche Rolle spielt die Wissenschaft in gesellschaftlichen Machtbeziehungen? Und wessen Beteiligung wird bei der Produktion von Wissen honoriert? Mit diesen Fragen beschäftigte sich ein spannendes Panel unter der Leitung von SIMONA BOSCANI LEONI.

Den Anfang machte SEBASTIAN KÜHN von der Leibniz-Universität Hannover. Ausgangspunkt des Referats war eine Notiz von Gottfried Wilhelm Leibniz, der den Besuch eines Bauern plante, der „ein guter Mechanicus sey“. Davon ausgehend fragte Kühn nach der Rolle von Nichtgelehrten in der Wissenschaft der Frühen Neuzeit. Diese waren zwar oft an der Forschung beteiligt, meist aber nur als Zudiener, sodass ihr Beitrag unsichtbar bleibt. Es sei dabei wichtig, diese Amateure nicht nur aus der Warte der etablierten Wissenschaft, zu betrachten, aus der sie defizitär anmuten, sondern auch nach ihren eigenen Motiven und Umständen zu fragen.
Der Bauer Christoph Arnold (1650 -1695) aus Sommerfeld bei Leipzig etwa betrieb Sternkunde und beobachtete unter anderem einen Kometen und einen Merkurtransit. Er meldete seine Observationen an den Astronomen Gottfried Kirch, der einen der Briefe Arnolds veröffentlichte. Viele Gelehrte waren auf Beobachtungen aus der Bevölkerung angewiesen, ihre eigenen philosophischen Überlegungen wurden jedoch nicht geschätzt; so ärgerte sich etwa der Astronom Kirch über Bauern, die Kalender verfassten. Anders die Leipziger Obrigkeit, die Arnolds Leistungen honorierte: Sie gewährte ihm eine Steuerbefreiung und liess sein Porträt in der Ratsbibliothek aufhängen. Auf dem Gemälde wurde er nicht als Bauer, sondern als Astronomicus bezeichnet und in typischer Gelehrtenpose dargestellt. Der Rat wollte damit wohl auch ein Zeichen gegen die Universität setzen. Diese befand sich zwar in Leipzig, war aber nicht dem Rat unterstellt, was immer wieder zu Konflikten geführt hatte. Arnolds eigene Perspektive ist schwerer zu fassen, da nur wenige seiner Briefe an den Rat von Leipzig erhalten geblieben sind. In seinem Brief an Kirch stellte Arnold auch philosophische und theoretische Überlegungen zur Entstehung von Kometen an. Diese Passagen zitierte Kirch jedoch nicht, sondern stellte Arnold als einfachen „Rusticus“ dar. Arnold selbst sah sich als Aufklärer und bekämpfte astrologische Deutungen von Himmelsphänomenen in seinem Dorf.

Arnold sei zwar eine Ausnahme, aber durchaus kein Einzelfall gewesen, führte Kühn aus. Das Interesse an naturwissenschaftlicher Forschung sei in vielen Schichten weit verbreitet gewesen, auch wenn dies nicht immer gut dokumentiert sei. Die Wissenschaftsgeschichte dürfe diese Dimension jedoch nicht ausser Acht lassen. Auf Nachfrage aus dem Publikum erklärte Kühn, dass andererseits aber auch die Autodidakten auf den Kontakt mit der akademischen Welt angewiesen waren. Zudem konnten sie wissenschaftlichen Tätigkeiten längerfristig nur nachgehen, wenn sie dafür materiell entschädigt wurden.

Um den Umgang der etablierten Wissenschaft mit der Öffentlichkeit ging es auch im zweiten Referat. SARAH BAUMGARTNER von der Universität Bern untersuchte, wie die einflussreiche Ökonomische Commission der Physicalischen Gesellschaft Zürich mit der Bevölkerung interagierte. Die 1759 gegründete Kommission betrieb „Naturlehre zum praktischen Nutzen des Landmannes“, wobei rationale Anbaumethoden die Erträge steigern sollten. Das ständige Anhalten der Bauern zu grösserer Innovation war jedoch widersprüchlich, denn die Obrigkeit verhinderte zugleich durch ihre Zehntordnung landwirtschaftliche Experimente. Die Landleute selbst wurden auch miteinbezogen, etwa durch Bauerngespräche, Briefwechsel mit Landpfarrern oder Preisfragen. Dieser Einbezug der Bauern habe jedoch nicht der Demokratisierung gedient, sondern sollte die Herrschaft der in der Kommission vertretenen städtischen Herren über die Landschaft stärken, so Baumgartner, die zum Beleg dieser These zwei Beispiele anführte.
Das erste und bekanntere war jenes des Musterbauern Kleinjogg Gujer, der durch die Schriften des Ratsherren Johann Caspar Hirzel bekannt wurde. Seine „Betrachtungen eines philosophischen Bauern“ wurden in mehrere Sprachen übersetzt und machten Chlyjogg bis über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Allerdings brachte Gujer kaum eigene Ideen ein, sondern wurde vor allem durch seine enthusiastische Übernahme der rationalen Wirtschaft und sein Bekenntnis zur Arbeitsamkeit zu einer symbolischen Figur. Durch seine Bekanntheit konnte er in Pacht einen grösseren Hof übernehmen, was ihm – genauso wie die neuen Anbaumethoden – zu ökonomischem Erfolg verhalf.
Der Küfer und Bannwart Heinrich Götschi aus Oberrieden wurde zwar weniger bekannt, seine Beiträge hatten aber grösseren Einfluss. Er gewann mehrere von der ökonomischen Kommission ausgeschriebene Preisfragen, die sich mit dem schlechten Zustand der Zürcher Wälder befassten. Götschis Ideen flossen in das neue Forstmandat ein, woraufhin er zum Mitglied der Waldungskommission berufen wurde.

Die beiden Landleute erfüllten somit verschiedene Rollen: Während Götschi als Experte betrachtet wurde, der über praktisches Wissen verfügte, war Chlyjogg vor allem als Vorbild wichtig, das man als idealen Bauern präsentierte. Dies habe durchaus Sinn gemacht, so Baumgartner, denn die Obrigkeit konnte auf die Forstwirtschaft direkter Einfluss nehmen als auf den Ackerbau. Allgemein müssten die Aktivitäten der Commission im Kontext des zunehmenden Ausbaus städtischer Macht in dieser Periode gesehen werden.

Mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Expansion befasste sich auch der dritte Referent, FABIO ROSSINELLI von der Universität Lausanne. Er untersuchte die Entstehung von Geographischen Gesellschaften in der Schweiz und ihre Verbindungen zum europäischen Imperialismus. Die ersten Geographischen Gesellschaften entstanden ab 1821 in Paris und London. Sie dienten nicht nur wissenschaftlichen Zwecken, sondern explizit auch politischen. Geographisches Wissen diente der Ausübung von Macht, mit der auch die Ausbreitung von Weltbildern, meist kolonialen, einherging.
Auch in der Schweiz entstanden mehrere Geographische Gesellschaften, die erste 1858 in Genf. Sie funktionierten analog zu denjenigen der Kolonialmächte. Alle Gesellschaften wurden von Eliten gegründet, in Genf etwa von prominenten Bürgern und in Aarau von Militärkadern. Die Gesellschaften beteiligten sich durch verschiedene Aktivitäten an Expeditionen, beispielsweise durch die Finanzierung von Expeditionen, die Verleihung von Preisen und Medaillen oder durch Publikationen. Der Übergang von der „reinen“ Wissenschaft zu Wissen, das praktische Vorteile verschaffte, war dabei fliessend, d.h. die Aktivitäten der Geographischen Gesellschaften deckten sich oft mit den wirtschaftlichen Interessen der Teilnehmer. In der Nachfolge eines Berichtes über den Westen der USA investierten etwa mehrere Mitglieder der Genfer Gesellschaft in Eisenbahnaktien, während ein anderer Bericht dringend von Investitionen in Gambia abriet. Auch an Produktionstechniken und potentiellen Absatzmärkten für Schweizer Produkte bestand Interesse. Abgesehen von solchen praktischen Informationen gab es auch eine ideologische Linie, die sich durch einen kolonialistischen Diskurs auszeichnete. Das wissenschaftliche Interesse schrieb sich so in die koloniale Ideologie ein. Die Geographischen Gesellschaften boten dem Schweizer Bürgertum eine Möglichkeit, sich in die europäische imperiale Gesellschaft zu integrieren.

Die wissenschaftliche Betätigung verschaffte Amateuren soziale Anerkennung, aber auch praktisch anwendbares Wissen und materielle Vorteile. Gleichzeitig profitierte auch die Wissenschaft von den Erkenntnissen der Amateure, und dem öffentlichen Interesse an ihrer Arbeit. In allen drei Referaten wurde deutlich, dass Wissen auch in der Vergangenheit nicht nur an Universitäten produziert wurde, und sich die Wissenschaftsgeschichte daher auch mit politischen und gesellschaftlichen Fragen befassen muss.


Panelübersicht:

Kühn, Sebastian: Wie Leibniz einen Bauern besuchte. Versuch einer Wissenschaftsgeschichte jenseits der Wissenschaften

Baumgartner, Sarah: Wissenskonstitution und Macht in der Zürcher ökonomischen Kommission

Fabio, Rossinelli: Les associations géographiques helvétiques et leurs visées coloniales au 19e siècle

Veranstaltung
4. Schweizerische Geschichtstage
Organisiert von
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Université de Lausanne
Veranstaltungsdatum
Ort
Lausanne
Sprache
Deutsch
Art des Berichts
Conference