Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
PD Dr. phil
Daniel Marc
Segesser
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2016/2017
Abstract
Der Erste Weltkrieg hatte einen Strukturbruch in der Migrationsgeschichte Europas zur Folge. Ab 1914 wurden transnationale Wanderungsbewegungen immer stärker durch politische Prozesse und staatliche Rahmenbedingungen ausgelöst und reglementiert. Von diesen Entwicklungen war auch die inmitten Europas liegende Schweiz stark betroffen. In der vorliegenden Studie wird untersucht, wie sich die vielfältigen Migrationsbewegungen mit Bezugspunkt Schweiz in den Jahren von 1914 bis 1918 veränderten. Dabei stehen die staatlichen und administrativen Massnahmen von Seiten der Schweizer Behörden, mit denen Migrationsverläufe geregelt und kontrolliert wurden und mit welchen der Handlungsspielraum von Migrantinnen und Migranten begrenzt oder ausdehnt wurde, im Fokus. Der grösste Teil des ausgewerteten Archivmaterials stammt aus dem Schweizer Bundesarchiv in Bern. Zur Ergänzung der schweizerischen Bestände wurde in den National Archives in London sowie dem Haus-, Hofund Staatsarchiv in Wien recherchiert. Die Untersuchung stützt sich in erster Linie auf Verwaltungsquellen. In diesen finden sich aber auch immer wieder Spuren von privaten und medialen Quellen.
In einem Theoriekapitel wird zuerst die theoretische Basis für die Untersuchung von Migrationsbewegungen im Krieg ausgearbeitet. Im Gegensatz zu diversen Theorien betreffend Zwangsmigration, die oftmals durch Kriege ausgelöst wird, existiert nämlich keine übergreifende Theorie zur grundsätzlichen Beeinflussung verschiedener Migrationsformen durch den Krieg. Die Arbeit greift daher auf Ansätze des Migrationsforschers Robin Cohen sowie der Mobilitätsforschung zurück. Im ersten Hauptkapitel wird dann die Veränderung der transnationalen Arbeitsmigration mit Bezugspunkt Schweiz untersucht. Die Schweiz war ab 1915 vollständig von kriegführenden Staaten umgeben, deren Regierungen strenge Grenzund Passkontrollen eingeführt hatten. Deshalb erliess auch der schweizerische Bundesrat schärfere Grenzkontrollen, womit die zuvor kaum regulierte Einreise von ausländischen Arbeitskräften eingeschränkt wurde. Allerdings wurden für die in der Bauindustrie dringend benötigten italienischen Arbeitsmigranten Sondervorschriften erlassen. Im Laufe des Krieges kam es in der Schweiz zu einer verstärkten Nationalisierung des Arbeitsmarktes und nach Kriegsende sollte der kurzfristige Aufenthalt von ausländischen Arbeitskräften zum allgemeingültigen Prinzip erhoben werden. Die Mobilisierung männlicher Arbeitskräfte führte dazu, dass die Rekrutierung von Arbeitskräften zu einem Kernproblem der kriegführenden Staaten wurde. Deshalb wurde gerade in den kriegführenden Nachbarländern der Schweiz versucht, schweizerische Arbeitskräfte für die heimischen Kriegsindustrien zu gewinnen. Im Gegenzug wurden Schweizer Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten – insbesondere Hotelangestellte – im kriegführenden Ausland als „feindliche Ausländer“ verdächtigt, der Spionage sowie anderer Vergehen bezichtigt und von ihren Posten entlassen bzw. vertrieben.
Der Erste Weltkrieg schränkte Migrationsbewegungen nicht nur ein, sondern war auch Initiator von Migration – so beispielsweise der militärischen Migration. Deshalb wird im zweiten Hauptkapitel diese Form der Migration thematisiert. Während des Krieges suchten zahlreiche ausländische Deserteure und Refraktäre Zuflucht in der Schweiz. Der Schweizer Bundesrat anerkannte die Militärflüchtlinge zwar nicht als politische Flüchtlinge, gewährte ihnen in der Regel aber Aufenthalt auf „Wohlverhalten“ hin. Insbesondere nach der Russischen Revolution und den Novemberunruhen in Zürich 1917 verschlechterte sich das Klima gegenüber den oftmals politisch tätigen ausländischen Deserteuren und Refraktären zunehmend und mit der temporären Grenzsperre für ausländische Militärflüchtlinge 1918 kam es zu einem Bruch in der Schweizer Asyltradition. Auch viele im Ausland lebende Schweizer Militärangehörige sollten während des Krieges in die Schweiz reisen, da sie zum Dienst in der Schweizer Armee aufgeboten worden waren. Die Schweizer Behörden im In- und Ausland hatten sich hinsichtlich der wehrpflichtigen Schweizer im Ausland mit konkreten Fragen wie der Übernahme der Reisekosten, Unterstützungsleistungen, Dispensationsgesuchen etc. zu beschäftigen. Der Militärdienst von Schweizern in fremden Armeen bzw. deren Befreiung aus diesen machte zudem diplomatische Verhandlungen zwischen den zuständigen Schweizer Vertretungen und den jeweiligen ausländischen Regierungen nötig.
Im dritten Hauptkapitel wird der Fokus auf Flucht und Vertreibung als Formen der kriegsbedingten Zwangsmigration und die Schweiz als Zufluchtsort bzw. den Schutz von Schweizerinnen und Schweizern im Ausland gelegt. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde die Schweiz als traditionelles Asylland für politische Flüchtlinge erst recht zum Zufluchtsort für politische Emigrantinnen und Emigranten. Grundsätzlich setzte sich während des Krieges bei den Bundesund Kantonsbehörden die Praxis durch, dass der Grenzübertritt nur „einzelreisenden“ Fremden mit ausreichenden finanziellen Mitteln und gültigen Ausweisschriften gestattet wurde. Deshalb wurden mittel- und schriftenlose Zivilflüchtlinge in Gruppenverbänden an der Schweizer Grenze grundsätzlich abgewiesen. Schweizerinnen und Schweizer im Ausland wurden während des Ersten Weltkrieges ebenfalls zu Flüchtlingen oder Schutzbedürftigen. Die Vertreibung und Verfolgung von schweizerischen Staatsangehörigen im Ausland machte in vielen Fällen ein Einschreiten der Schweizer Behörden zu ihrem Schutz nötig. Während des Krieges wurden die schweizerischen Vertretungen im Ausland deshalb laufend ausgebaut. 1917 wurde ausserdem die Auslandschweizerorganisation der Neuen Helvetischen Gesellschaft institutionalisiert und es kam zur Gründung von diversen Auslandsgruppen.
Im letzten Hauptkapitel wird die staatliche Anwendung von Zwangsmassnahmen wie Verhaftung, Internierung und Ausweisung untersucht. Da die Schweizer Regierung während des gesamten Krieges am Konzept der bewaffneten Neutralität festhielt, wurden im Land keine Internierungen als kriegsbedingte Zwangsmassnahme durchgeführt. Allerdings wurden ab 1916 verletzte Kriegsgefangene aus den kriegführenden europäischen Staaten und ihren Rekrutierungsgebieten in leerstehenden Hotels und Sanatorien interniert. Andere Zwangsmassnahmen wurden in der Schweiz sehr wohl angewendet, so wurde die Ausweisungsbefugnis des Bundesrates aufgrund des Notverordnungsrechtes im Laufe des Krieges massgeblich erweitert. Schweizerinnen und Schweizer im kriegführenden Ausland waren im Laufe des Krieges ebenso von staatlichen Zwangsmassnahmen gegen „feindliche Ausländer“ wie Verhaftungen, Internierungen und Ausweisungen betroffen. Die Schweizer Behörden versuchten durch diplomatische Interventionen den Erlass oder die Anwendung dieser Massnahmen abzumildern, rückgängig zu machen oder sogar zu verhindern. Gerade im Falle der Verhaftungen und Internierungen sollte dies oftmals gelingen. Ausweisungsverfügungen wurden allerdings nur in seltenen Fällen zurückgezogen und nur wenige ausgewiesene schweizerische Staatsangehörige konnten wieder an ihre früheren Wohnorte im Ausland zurückkehren.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Erste Weltkrieg den Umgang der Schweizer Bundesregierung mit Migration grundlegend veränderte. Im Innern des Landes kam es zu einer Umstellung der Dispositive auf Abwehr, welche in einer Verschärfung und Zentralisierung der Grenzkontrollen und schliesslich der Gründung einer Eidgenössischen Fremdenpolizei im Jahr 1917 mündete. Die Kriegserfahrungen der Schweizerinnen und Schweizer im Ausland wiederum führten zu einem Ausbau der staatlichen und privaten Institutionen zum Schutz und der Organisation der schweizerischen Staatsangehörigen im Ausland. Damit wurden die sogenannten „Auslandschweizerinnen“ und „Auslandschweizer“ zu einer neuen bundesstaatlichen „Betreuungskategorie“.
Publikation: https://www.chronos-verlag.ch/node/20990