Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Joachim
Eibach
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2020/2021
Abstract
Im Jahr 1842 beschrieb die Bernburgerin Albertine von Fellenberg-Zeerleder (1789 – 1869) in ihren Memoiren die Zusammensetzung ihrer Familie. Dabei rückte sie ihre Geschwister Ludwig, Albrecht, Karl, Gritli, Charlotte und Berni ins Zentrum ihrer Ausführungen – Geschwister als Fundament der Familie. Der Bedeutung der Brüder und Schwestern innerhalb der Familie, wie sie diese historische Akteurin ausdrückte, wurde im Rahmen der bisherigen historischen Familienforschung nur marginal Aufmerksamkeit geschenkt. Wichtiger schienen bis anhin vertikale Familienbeziehungen zwischen Eltern und Kindern oder horizontale Beziehungen zwischen Eheleuten. Wurden Geschwisterbeziehungen untersucht, so standen besonders inzestuöse Beziehungen oder materielle/ökonomische und machtpolitische Fragen – etwa die Sukzessionsregelung oder Erbschaftspraxis – im Fokus.
Während die bisherigen Untersuchungsansätze Geschwisterbeziehungen stark eingeschränkt analysierten, öffnet die vorliegende Arbeit die Perspektive und zeigt die Diversität der Beziehungen zwischen Geschwistern auf. Dabei geht es nicht darum zu fragen, was Geschwister genau waren, sondern vielmehr wird betrachtet, wie Geschwisterbeziehungen gelebt und gestaltet wurden. Die Arbeit fragt nach der Eingebundenheit der Geschwister im Alltag ihrer Brüder und Schwestern, ihrer Wichtigkeit bei der Ausgestaltung des eigenen Lebens und nach den Rollen und Funktionen, die Geschwister darin einnahmen.
Im Zentrum der Untersuchung stehen die Alltagspraktiken und die Beziehungspflege der neun Geschwister der bürgerlich-patrizischen Berner Familie Zeerleder im Zeitraum zwischen 1780 und 1850, die anhand von Selbstzeugnissen, im Besonderen Briefen, Memoiren und Tagebüchern, praxeologisch analysiert wurden. Die Arbeit mit Selbstzeugnissen ist aus mehreren Gründen interessant und fruchtbar. So erlauben sie etwa eine diskursorientierte Untersuchung ihres Inhalts und lassen gleichzeitig eine Analyse des sozialen Handelns der schreibenden Individuen zu. Sie begünstigen somit die Untersuchung des subjektiven Wahrnehmens und Deutens und – unter dem Blickwinkel der Praxeologie – des subjektiven Handelns.
Die achte in Bern ansässige Generation dieser Bernburger Familie hinterliess gerade in jener Zeit, in der die historische Familienforschung eine ‚Revolution‘ oder Transformation der Familie feststellt, also im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, ein Konvolut an Schriftstücken, die tiefe Einblicke in den familiären Alltag und die geschwisterlichen Beziehungen gewähren. Das umfangreiche, handschriftliche Quellenmaterial, verfasst von unterschiedlichen Geschwistern zu und in diversen Lebensabschnitten, erlaubt es, ein fragmentarisches Panorama der Geschwisterbeziehungen der Brüder und Schwestern Zeerleder zuzeichnen. Angefangen in der Kindheit und Jugend über den rite de passage der ledigen Jahre zur Zeit der eigenen Familien- und Haushaltsgründung, beleuchtet die Arbeit drei Lebensphasen im Besonderen, in denen Geschwisterbeziehungen unterschiedlich geformt, gepflegt und konsolidiert wurden. In diesen Lebensabschnitten nahmen die Geschwister Zeerleder unterschiedliche Funktionen ein, sei dies als Erziehende, Pflegende und Fürsorgende, als unterstützende Kräfte im Alltag oder als Geschäftspartner. Strukturiert wurde diese geschwisterliche Multifunktionalität durch Parameter wie das soziale Milieu, das Alter und Geschlecht und die damit zusammenhängenden (gender)spezifischen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Konformitätserwartungen.
Der in der Forschung beobachtete Bedeutungszuwachs horizontaler, innerfamiliärer Beziehungen im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts, charakterisiert durch eine zunehmende Emotionalisierung und Intimisierung zwischenmenschlicher Beziehungen, ist auch in der untersuchten Familie feststellbar. Die Analyse der Beziehungen der Geschwister Zeerleder zeigt, dass Bruder und Schwester mehr waren als Teile eines Familiengefüges, die aus familiären Solidaritäts- und Verantwortlichkeitsgefühlen handelten. Sie waren Freund und Freundin, wurden so zu zentralen Be- zugspersonen und nahmen im Prozess der Selbstbildung und -findung ihrer Geschwister eine wichtige Rolle ein. So kam den Geschwistern auch eine bedeutende soziale Funktion zu.
Die Arbeit argumentiert, dass die verstärkte ‚Verfreundschaftlichung‘ geschwisterlicher Beziehungen dazu führte, dass im Leben und Austausch mit Geschwistern das Selbst konstituiert und in einen grösseren gesellschaftlichen Rahmen eingebettet werden konnte. Mittels geschwisterlicher Involviertheit wurde der eigene Platz in der Gesellschaft gefunden, gesellschaftliche Normen und Erwartungshaltungen vorgelebt, gelehrt und verinnerlicht und so das soziale Milieu zugleich produziert und reproduziert. Geschwister bildeten so nicht nur, wie von Albertine Zeerleder eingangs dargestellt, das Fundament der Familie, sondern waren auch wichtige Bausteine des gesellschaftlichen Gefüges.