Dissens im Dissens? Stalinismus in Gruppengedächtnissen der sowjetischen Dissidentenbewegung

AutorIn Name
Fabian
Lüscher
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
PD Dr.
Julia
Richers
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2013/2014
Abstract
In den späten 1960er Jahren setzte in der sowjetischen Kulturpolitik ein Kurswechsel ein. Spätestens mit dem Beginn der Brežnev-Ära fand das vielzitierte „Tauwetter“, eine Phase gelockerter Zensurbestimmungen und offizieller Kritik an Elementen des stalinistischen Herrschaftssystems, allmählich ein Ende. Auch Vergangenheitsdiskurse verschiedener Provenienz waren von dieser kulturpolitischen Tendenz betroffen. Parteiorgane und akademische Institute begannen, die kritische Auseinandersetzung mit der jüngsten sowjetischen Vergangenheit zu delegitimieren und trugen damit zur Entstehung einer inoffiziellen Gegenerinnerung innerhalb einer sich formierenden Dissidentenbewegung bei. Unter V erwendung einfachster Hilfsmittel verbreiteten Dissidentinnen und Dissidenten unzensierte Literatur innerhalb eines Netzwerks von interessierten Leserinnen und Lesern. Zu den Kernanliegen einiger Autoren in diesem System des Selbstverlags (samizdat) gehörte die Ermöglichung einer offenen Aufarbeitung der Stalin-Ära. Die Urheber der Texte waren teilweise geprägt von eigenen Repressionserfahrungen und schrieben oftmals mit dem Anspruch, auch unter dem Druck von Berufsverboten, Zugangsbeschränkungen zu Fachliteratur und Archivalien, so wissenschaftlich wie möglich zu arbeiten. So fanden diverse Zugänge zu einer entstalinisierenden Betrachtung der Vergangenheit Einzug in Gruppengedächtnisse, die sich im Umfeld der Dissidentenbewegung und im Schatten der offiziellen Tendenz zur Verdrängung kritischer Geschichtsdebatten entwickeln und vorübergehend halten konnten. Die Erinnerung an den Stalinismus im Umfeld der Dissidentenbewegung steht im Zentrum der Masterarbeit. Fragen nach der Motivation, dem Inhalt, aber auch nach daraus abgeleiteten Handlungsmaximen werden mit Blick auf die Geschichtsdiskurse in verschiedenen Phasen der dissidentischen Publizistik erörtert. Um sich diesem Phänomen möglichst differenziert annähern zu können, bedient sich die Arbeit der vielseitigen Hilfsmittel, die die kulturwissenschaftliche Theoriebildung seit der Wiederentdeckung von Maurice Halbwachsʼ Mémoire collective hervorgebracht hat. Dabei wird besonderer Wert auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten in der Brežnev’schen Sowjetunion gelegt, die eine Anpassung der vorwiegend in westeuropäischen Zusammenhängen entwickelten Konzepte und Typologien für den Untersuchungsgegenstand voraussetzen. Ziel des methodischen Teils der Arbeit ist deshalb nicht zuletzt die Schaffung eines Amalgams aus der klassischen kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung und aus den neuesten Erkenntnissen zur Öffentlichkeit sowjetischen Typs im gegebenen Zeitraum. Über die Analyse von offenen Briefen, politischen Pamphleten und Periodika, die im politischen Samizdat kursierten, können Einsichten in die Funktionsweise dieses besonderen Systems des Nonkonformismus gewonnen werden. Die Dichte an verfügbaren Quellentexten darf aber nicht über die stark beschränkte Reichweite dieser Schriften innerhalb der Sowjetunion hinwegtäuschen. Eine breitere Plattform erhielten die hier untersuchten Texte insbesondere durch ihren Transport ins westeuropäische Ausland, wo zahlreiche Arbeiten sowjetischer Dissidenten publiziert wurden (tamizdat). Durch deren Rückführung in die UdSSR konnte das Informationsmonopol der KPdSU, wenn auch nur in extrem kleiner Auflage und von einer verhältnismässig winzigen Leserschaft, umgangen werden. Unter Einbezug der reichhaltigen Memoirenliteratur aus dem Umfeld der Dissidentenbewegung und den damit verbundenen Fallbeispielen zielt die Arbeit auf eine differenzierte Einordnung dissidentischer Vergangenheitsdiskurse und nonkonformer Stalinismusbilder. Im Rahmen eines minimalen Grundkonsenses über die verbrecherische Natur der Herrschaftsperiode Stalins entwickelten sich durchaus verschiedene Schattierungen der Gegenerinnerung. Nachdem erste Stellungnahmen in den späten 1960er Jahren ganz im Sinne von Chruščëvs berühmter Geheimrede am XX. Parteitag der KPdSU noch weitgehend personalisierte Kritik an Stalin übten, lässt sich analog zum Anwachsen und zur Ausdifferenzierung der Dissidentenbewegung auch ein differenzierteres Bild der Gegenerinnerung an den Stalinismus zeichnen. Phasenweise waren die V ergangenheitsdiskurse innerhalb der Bewegung stark von positiven politischen Programmen unterschiedlicher Färbung beeinflusst. Gerade die Aufarbeitung des Stalinismus und dessen Verortung in der sowjetischen Geschichte wurde zum Bestandteil bewegungsinterner Kontroversen und zum Argument für politische Ambitionen verschiedener Akteure im Umfeld der Dissidentinnen und Dissidenten. Erst die letzte Generation politischer Samizdat-Zeitschriften versuchte sich wieder von den politischen Verstrickungen der Gegenerinnerung zu lösen.

Zugang zur Arbeit

Bibliothek

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