Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Büschges
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2017/2018
Abstract
Die Bolivarische Revolution in Venezuela unter Hugo Chávez (1999 – 2013) und seinem Nachfolger ist einer der kontroversesten politischen Prozesse im frühen 21. Jahrhundert. Ein Aspekt, der dabei oft unterbeleuchtet bleibt, ist die Rolle der Armee bzw. des Militärischen im Reformprozess. Chávez und seine Bewegung stammten aus den Streitkräften und versuchten 1992 mit einem Militärputsch die Macht zu übernehmen. Erst nach dem Scheitern dieses Vorhabens wandelte sich die bolivarische Bewegung (der Name leitet sich vom Unabhängigkeitshelden Simón Bolívar ab) in eine zivile Partei, die 1998 mit Chávez die Präsidentschaftswahl gewann.
Die Untersuchung geht der Frage nach, ob die Bolivarische Revolution als Ausdruck eines zeitgenössischen Prätorianismus verstanden werden kann, also als politische Einflussnahme der Armee auf die Gestaltung der nationalen Entwicklung. Mit Blick auf die Historie der zivimilitärischen Beziehungen in Venezuela, die Entstehungsgeschichte der bolivarischen Bewegung und den Reformprozess ab 1999 werden Literatur, programmatische Dokumente sowie Gesetzes- und Verfassungstexte auf einen prätorianischen Diskurs hin untersucht. Zudem beleuchtet die Arbeit Schlüsselmomente in Chávez ́ Regierungszeit, die eine Bewertung der zivil-militärischen Beziehungen in der Bolivarischen Revolution erlauben.
Bis Mitte des 20. Jahrhunderts waren die Streitkräfte in Venezuela gleichermassen Herrschaftsapparat wie Treiber der staatlichen Modernisierung. Es gab einen tief verankerten Prätorianismus, denn die Armee war direkt oder indirekt der wichtigste politische Machtfaktor. Dies änderte sich nach dem Sturz von Präsident Marcos Pérez Jiménez 1958. Im „Pakt von Punto Fijo“, einer Abmachung zwischen politischen Parteien, Wirt- schaftsführern, Kirche und Armeeführung, wurde eine zivile Hegemonie über den politischen Bereich begründet.
Ab den 1970er Jahren bildeten sich in den Streitkräften jedoch Verschwörergruppen, die in einer prätorianischen Tradition auf ein politisches Engagement des Militärs drängten. Die bedeutendste war die von Chávez angeführte „Revolutionäre Bolivarische Armee-200“ (EBR- 200). Diese versuchte 1992 einen Putsch gegen Präsident Carlos Andrés Pérez, nachdem dieser 1989 eine Volkserhebung („Caracazo“) vom Militär niederschlagen liess. Der Putsch scheiterte, aber die Anführer der Bewegung wurden zu Volkshelden und zwei Jahre später begnadigt. In der Folge öffnete sich die Bewegung für Zivilisten, scharte eine heterogene Koalition um die Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung und gewann die Präsidentschaftswahl 1998.
Die Untersuchung der von Chávez ausgerufenen Bolivarischen Revolution auf prätorianische Elemente fokussiert einerseits die neue Verfassung von 1999 und das Konzept der „integralen Verteidigung“. Andererseits wird das Programm „Plan Bolívar 2000“ analysiert, das auf Grundlage einer „zivil-militärischen Einheit“ die Armee in sozialpolitische Aufgaben einband. Mit Blick auf einen erfolglosen Putsch von Teilen des Mili- tärs gegen Chávez 2002 wird dann das Kräfteverhältnis zwischen militärischen und zivilen Faktoren innerhalb der „zivil-militärischen Einheit“ ausgelotet.
In eine neue Phase traten die zivil-militärschen Beziehungen in Venezuela ab 2005, als Chávez den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ als Ziel ausgab. Es folgte eine – keineswegs widerspruchsfreie – Transformation der Streitkräfte, vorangetrieben durch die Schaffung einer Volksmiliz und eine neue Militärdoktrin auf Basis der asymmetrischen Kriegsführung. Vor und besonders nach Chávez ́ Tod 2013 wurde die Armee diskursiv auch zunehmend auf die Verteidigung des sozialistischen Projekts verpflichtet.
Die Streitkräfte haben die Bolivarische Revolution stark geprägt. Die Entstehungsgeschichte in der Armee macht einen wesentlichen Teil der historischen, diskursiven, sozialen und machtpolitischen Identität des Prozesses aus. Doch auch das Militär selbst ist in der Bolivarischen Revolution reformiert, mit anderen Aufgaben betraut, politisiert und auf neue Ziele verpflichtet worden. Diese lassen sich nicht aus Dynamiken und Motivationen in den Streitkräften selbst oder aus einer „prätorianischen Bestimmung“ erklären, sondern gehorchten der politischen Logik des historischen Projekts der Bolivarischen Revolution, die sich in einem Feld von Kräfteverhältnissen mit unterschiedlichen Akteuren beständig weiterentwickelte.
Zwei Wendepunkte sind dabei wichtig: Der erste in den 1990er Jahren, als sich die Bewegung von einer militärischen Verschwörung in ein zivil-militärisches Politikprojekt und später in eine Partei mit einer Massenbasis wandelte. Der zweite ist die Ausrufung des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ 2005. Die Streitkräfte waren nicht mehr eine nur der Sicherheit (und Entwicklung) der Nation verpflichtete Institution, sondern Mitträger eines politischen Projekts, das über die bestehenden Verhältnisse hinauswies und viel weiter ging als das, was einst im Schosse der Streitkräfte als prätorianisch gefärbte Bewegung begonnen hatte.