Am Anfang dieser Studie steht die Beobachtung, dass die frühneuzeitlichen Semantiken des Aristokratiebegriffs in der bisherigen Forschung kaum untersucht worden sind. Meist wird der Begriff als Synonym für Adel oder als analytische Kategorie für soziopolitische Eliten verwendet, was den Zugang zur Quellensprache erschwert. Die Rekonstruktion der jeweils kontextspezifischen Semantiken dieses „Grundbegriffs“ könnte dagegen, so die Grundannahme der Arbeit, einen Zugang zu bisher vernachlässigten Aspekten der politischen Sprache und Kultur der Frühen Neuzeit eröffnen, die sowohl Fragestellungen der Republikanismuswie auch der Adelsforschung berühren. Die zeitliche Fokussierung auf das 18. Jahrhundert erlaubt es zudem, nach dem Bedeutungswandel des Aristokratiebegriffs in der beginnenden „Sattelzeit“ (Koselleck) zu fragen.
Im ersten Kapitel des Darstellungsteils wird ein Blick auf repräsentative Werke der frühneuzeitlichen Staatstheorie sowie auf zeitgenössische Lexika geworfen. Die Analyse zeigt, dass unter Aristokratie eine sowohl von der Monarchie als auch von der Demokratie verschiedene Staatsund Regierungsform verstanden wurde. Durch die Koppelung an die frühneuzeitlichen Souveränitäts-, Republikund Adelsdiskurse erhielt der Begriff eine spezifische Semantik, die sich allgemein als „Republik des Adels“ zusammenfassen liesse: ein polyarchisch verfasstes Gemeinwesen, in dem ein zur Herrschaft besonders geeignetes begrenztes Kollektiv von untereinander Gleichrangigen – im Rahmen der ständischen Gesellschaftsordnung assoziiert mit dem Adel – die von äusseren und inneren Gewalten losgelöste Gesetzgebungsgewalt ausübte. Die meistgenannten zeitgenössischen Beispiele für diese Staatsund Regierungsform waren demnach die italienischen Adelsrepubliken Venedig, Genua, Ragusa und Lucca, die eidgenössischen Ratsaristokratien Bern, Luzern, Freiburg und Solothurn sowie die polnische Wahlmonarchie, die aufgrund der legislativen Gewalt des Adels auch in der heutigen Forschung als „Adels republik“ bezeichnet wird.
In einem weiteren Kapitel wird anschliessend untersucht, wie der Aristokratiebegriff in Bezug auf ein konkretes Beispiel – die Republik Bern – verwendet wurde. Bern wurde im 18. Jahrhundert von äusseren Beobachtern geradezu als paradigmatischer Fall einer Aristokratie angesehen, dies aufgrund der im Grossen Rat vereinigten Gesetzgebungsund Regierungsgewalt. Auch Angehörige des Berner Patriziats beschrieben Bern in Staatsbeschreibungen, historiographischen Werken und Reden als Republik, die ihren nur mit Rom vergleichbaren Aufstieg dem Umstand verdanke, dass sie seit Anbeginn von einem mit spezifischen militärischen Tugenden ausgestatteten Adel regiert worden sei. Dieser Sicht stellte sich die innerstädtische Opposition fundamental entgegen, die das ursprünglich demokratisch verfasste Gemeinwesen als zu einer Oligarchie – dem negativen Spiegelbild der Aristokratie – degeneriert ansah. Auch besorgte Ratsmitglieder sahen im Abnehmen sowohl regimentsfähiger als auch regierender Geschlechter und dem Erziehungsmangel in der patrizischen Jugend Anzeichen für den drohenden Niedergang der Berner Aristokratie. In den 1780er Jahren wurden deshalb mehrere Reformen initiiert, um die „aristocratische Regierungsform“ zu erhalten: so die rangmässige Gleichstellung der Burger, die Einrichtung eines Politischen Instituts und die Festsetzung einer Mindestzahl regierender und regimentsfähiger Familien.
Wurde der Begriff der Aristokratie in der politischen Sprache Berns meist positiv verwendet, so diente er in Frankreich – dem zweiten Beispiel – bereits im Ancien Régime als negativer Abgrenzungsbegriff zur Diskreditierung etwa des oppositionellen Adels. Dieser verzichtete daher in seinen Reformschriften wohlweislich darauf, ihn zu verwenden, auch wenn sich etwa die Werke von Henri de Boulainvilliers durchaus einem „aristokratischen Republikanismus“ zuordnen liessen. Die negative Verwendung des Aristokratiebegriffs wurde im Vorfeld der Generalstände von der bürgerlichen Opposition beibehalten, nun aber fundamental gegen die Privilegien des ersten Standes gerichtet. Anhand von Druckschriften aus den Jahren 1788 und 1789 lässt sich nachzeichnen, wie aristocratie zu einem revolutionären Kampfbegriff wurde, Synonym für eine usurpierte Tyrannei des Adels, die es zu verhindern oder zu bekämpfen gelte. Nach Ausbruch der Revolution wurden politische Gegner als aristocrates bezeichnet; während der Terreur kam diese Bezeichnung einem Todesurteil gleich. Eine Republik konnte im neuen Verständnis nur noch demokratisch sein.
Mit dem Bedeutungswandel des Aristokratiebegriffs im Kontext der Französischen Revolution veränderte sich auch die Beurteilung frühneuzeitlicher Aristokratien fundamental, was sich etwa an den Ausführungen über Bern in Reiseberichten der 1790er Jahre ablesen lässt. Die aristokratischen Republiken gerieten schliesslich allesamt in den Strudel der revolutionären Ereignisse. Nach ihrem Untergang diente der Aristokratiebegriff vorwiegend zur polemischen und später auch wissenschaftlichen Bezeichnung des Adels resp. von soziopolitischen Eliten; seine frühneuzeitliche Semantik als Republik des Adels geriet darob in Vergessenheit.
Eine zumindest teilweise Publikation der Resultate dieser Arbeit ist geplant. Zu Aspekten des Themas liegen bereits folgende Aufsätze zur politischen Sprache und Kultur in der frühneuzeitlichen Republik Bern vor: Auf dem Weg zur Adelsrepublik. Die Titulaturenfrage im Bern des 18. Jahrhunderts. In: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 70/1 (2008), 3-34; Im Schatten der Väter. Genealogisches Bewusstsein, politische Erziehung und Generationenkonflikte in der frühneuzeitlichen Republik Bern. In: Hartwin Brandt / Katrin Köhler / Ulrike Siewert (Hgg.): Genealogisches Bewusstsein als Legitimation. Interund intragenerationelle Auseinandersetzungen sowie die Bedeutung von Verwandtschaft bei Amtswechseln. Bamberg 2009 (im Druck).
Die Republik des Adels. Der Aristokratiebegriff in der politischen Sprache des 18. Jahrhunderts
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Windler
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2008/2009
Abstract