Angesichts der Erstarkung des Antisemitismus in Europa in den 1930er Jahren schritten auch die Juden in der Schweiz zur Abwehr gegen diese Bedrohung. Durch eine verstärkte Bezeugung der patriotischen Gesinnung und das Aufzeigen von Parallelen zwischen jüdischem und schweizerischem Werteverständnis sollte ersichtlich werden, dass die Juden im Land durch und durch loyale Schweizer waren. Ihr wichtigstes Ziel war die Verteidigung der Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit in der Eidgenossenschaft, welches mit Blick auf das Schicksal ihrer Glaubensgenossen in den Nachbarländern, aber auch durch die Haltung gewisser Kreise in der Schweiz, einer bedrohlichen Ungewissheit gegenüberstand.
Das Ziel dieser Arbeit ist es, vor dem Hintergrund der Ereignisse der 1930er und 1940er Jahre sowie in Anbetracht der Entwicklung der Geschichte der Juden in Europa und insbesondere der Schweiz, ein jüdisches bzw. schweizerisch-jüdisches Selbstverständnis aufzuzeigen, das sich im Verhalten und der Auseinandersetzung der Schweizer Juden mit dem Antisemitismus und ferner dem Zionismus zu erkennen gibt. Die Untersuchung behandelt die Israelitische Kultusgemeinde Bern (IKGB) — seit 1982 unter dem Namen Jüdische Gemeinde Bern (JGB) — und deren Mitglieder. Als Quellenmaterial dienen die Dokumente des Archivs der Jüdischen Gemeinde Bern.
In den Kapiteln 2 und 3 der Masterarbeit sollen die Ausführungen zur Identität und Geschichte der Juden in Europa und insbesondere in der Schweiz als Rahmenbedingungen für die Untersuchung der Quellen, deren Analyse und Einordnung, dienen. Ein immer wieder auftauchender Bezugsund Orientierungspunkt — auch im Quellenteil — ist der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG), der Dachverband der jüdischen Gemeinden in der Schweiz. Kapitel 4 beinhaltet einen Überblick über die Geschichte der Juden in Bern und der jüdischen Gemeinde Berns ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn der 1930er Jahre sowie die Entwicklung der Gemeinde ab den 1950er Jahren.
Die Kapitel 5, 6 und 7, die chronologisch in Vorkriegs-, Kriegsund Nachkriegsjahre unterteilt sind, bilden den Hauptteil der Masterarbeit. Vor dem Hintergrund der zuvor vermittelten Informationen und mit Blick auf die Frage nach dem Selbstverständnis wendet sich die Studie hier den Quellen der jüdischen Gemeinde Berns aus den 1930er und 1940er Jahren zu. Die Abwehr und der Kampf gegen den Antisemitismus, die Flüchtlingshilfe und die Zusammenarbeit mit dem SIG bilden die tragenden Themen, die in den Quellendokumenten dieser Krisenjahre hervortreten. Die Abwehr gestaltete sich als Aufklärungsarbeit und Stellungnahme gegenüber den Schweizer Behörden und der Schweizer Bevölkerung. Die Arbeit der IKGB konzentrierte sich zunehmend auf die Flüchtlingshilfe, die mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und dessen Folgen zusätzliche Mittel benötigte und zu einem grossen Teil auf den Schultern der Juden lastete. Sie waren in doppelter Hinsicht verpflichtet: als Jude gegenüber dem jüdischen Volk und als Schweizer gegenüber der Eidgenossenschaft.
Die Organisation der Abwehr und Flüchtlingshilfe stand unter dem Dach des SIG, der die Leitung über die Aufgaben, aber auch über das Verhalten der Schweizer Juden übernahm. Es bestanden viele Parallelen im Vorgehen auf nationaler und Gemeindeebene und die IKGB verhielt sich gegenüber dem SIG, den Schweizer Behörden und der Schweizer Bevölkerung weitgehend loyal. Gerade in dieser Krisenzeit trat die Bekundung der Zugehörigkeit zum Schweizer Volk und Staat mit Nachdruck hervor. Man kann von einem bodenständigen, traditionellen Patriotismus der IKGB sprechen. Dies zeigt sich auch in der Haltung zum Zionismus. Dem begegnete die Mehrheit der Gemeindemitglieder zunächst mit Ablehnung, da man keinen Anlass sah, der Schweiz als Heimat den Rücken zu kehren. Mit dem Anstieg des Antisemitismus gewannen die national-jüdischen Ideen auch in der IKGB an Akzeptanz. Die Identität, die bei den Mitgliedern der Israelitischen Kultusgemeinde Bern hervortritt, zeichnet sich in den untersuchten Jahren und in Bezug auf die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und dem Zionismus als eine vorwiegend auf das Kollektiv bezogene aus. Dieses Kollektiv kann verschiedene Perspektiven umfassen: Eine Perspektive umfasst die IKGB-Mitglieder, eine weitere alle Schweizer Juden. Eine dritte Sicht ist jene des Mitglieds der jüdischen Gemeinschaft weltweit, eine vierte die Haltung als Schweizer Bürger. Je nach Situation treten diese Perspektiven in den Vorderoder Hintergrund und werden von einem jüdischen, einem schweizerischen oder in den allermeisten Fällen von einem schweizerischjüdischen Selbstverständnis getragen.
Die Israelitische Kultusgemeinde Bern in den 1930er und 1940er Jahren. Ein schweizerisch-jüdisches Selbstverständnis in Krisenzeiten
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Gerlach
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2010/2011
Abstract