Die Gründung der modernen Türkei unter der Leitung von M. Kemal Atatürk ist ein bemerkenswerter Akt, mit welchem ein Nationalstaat aus den Ruinen eines theokratischen Vielvölkerreiches herausgehoben wurde. Der neue und von der Lausanner Konferenz 1923 ratifizierte Staat bekannte sich offen zum Sieg des türkischen Nationalismus gegen die europäischen und griechischen Invasoren. M. Kemal Atatürk nimmt daher als „Gründervater“ in der Türkei und deren Historiografie bis heute eine fundamentale und omnipräsente Rolle ein.
Die Lizenziatsarbeit versucht, M. Kemals Nationalismusbegriff in den historischen Kontext einzufügen, seine Genese, Bedeutung und die damit verbundene Problematik aufzuzeigen. Anhand ausgewählter Aussagen M. Kemals von 1903 bis 1937, der mehrtägigen Rede „Nutuk“ (1927), der Staatsbürgerkunde (1931) und einer weiteren Rede (1937), werden die Entwicklung und der Inhalt von M. Kemals Nationalismusbegriff zwischen 1919 und 1938 dargestellt. Dabei wird der Kemalismus jener Zeit, abweichend von der türkischkemalistischen Historiografie, als eine politische Ideologie, in deren Zentrum der Nationalismus stand, gesehen. Die Lizenziatsarbeit lehnt sich nicht an das sechs PfeileSchema (Republikanismus, Nationalismus, Populismus, Laizismus, Revolutionarismus und Etatismus) an, das dem Kemalismus zwar eine gewisse Flexibilität gibt und diesen als ein modernisierendes, pragmatisches und fortschrittliches Programm erklärt, aber zu vereinfachend wirkt. In Anlehnung an Parla und Davison wird der Kemalismus so zu einem „Third Way“, einer dritten Form zeitgenössischer totalitärer politischer Ideologien, wie Faschismus und Kommunismus. Somit ist der Kemalismus der Ära M. Kemal durchaus mit anderen zeitgenössischen Ideologien vergleichbar.
Anders als die türkischkemalistische Historiografie, in der die Ära M. ̈Kemal eine Zäsur bildet, zeigt die Lizenziatsarbeit hingegen die Kontinuitätsbeziehung des Kemalismus zu den vorhergehenden nationalistischen Bestrebungen und die von M. Kemal übernommenen Elemente auf.
Hauptziel des nach 1923 beginnenden Staatsbildungsprozesses war für Kemal der Eintritt in die westliche Zivilisation, wobei der Nationalismus als Grundlage und neues Kohäsionsmittel fungieren sollte. Die multiethnische und theokratische Erfahrung des osmanischen Vielvölkerreiches sollte radikal abgestreift werden, was nach dem weitgehenden Prozess der religiösen und ethnischen Homogenisierung innerhalb der anatolischen Bevölkerung nun möglich wurde. Sowohl die reformatorische wie auch ideologische Vorarbeit der Jungtürken hat M. Kemal genutzt und übernommen. So umfassten seine Ansichten positivistische Elemente wie Wissenschaftlichkeit und Ordnung, aber auch den Glauben an die Führung durch eine Elite. Kemal strebte eine korporativistisch aufgebaute, einheitliche Gesellschaft an. Dem entsprach auch sein Nationalismus; ein stark sprachlich und kulturell geprägter Türkismus. Die Türken verstand Kemal aufgrund ihrer Rasse, Kultur und Religion als ein soziales Ganzes. Dabei griff Kemal ferner auf Ziya Gökalps Werk „The Principles of Turkism“ (1923) zurück, welches zugleich ein Beleg dafür ist, dass der Türkismus unter M. Kemal seine politische und ideologische Umsetzung erfuhr. Die Jahre 1923 bis 1930 waren von Reformen und Unterdrückung bestimmt. Die gesamte Gesellschaft sollte die türkische Identität annehmen und jegliche separatistische Bewegung (religiös oder ethnisch motiviert) wurde unterdrückt.
Nach 1930 zeigte der Kemalismus am meisten Nähe zu den zeitgenössischen antidemokratischen Tendenzen. Die Türkei wurde zu einem Einparteienstaat, einer autoritären Diktatur, die von Misstrauen gegenüber der Bevölkerung gekennzeichnet war. Kemal sah den Nationalismus immer noch als einziges Werkzeug an, das die Säkularisierung, Emanzipation, Einheit und Modernisierung ermöglichen sollte. Dabei stellte er die Autorität der Nation und die nationale Einheit über das Individuum. Kemals Nationalismus war sowohl ein wie ausschliessend, tolerant gegen aussen und rigid gegen innen. Weitere problematische Aspekte waren, nebst dem Versuch, als vordergründig islamischer Staat, in die westliche Zivilisation einzutreten auch die Akzeptanz dieses in weiten Teilen nicht demokratischen Westens.
M. Kemal, der sich weniger zum Ideologen berufen sah und als ein Mann der Tat betrachtet werden wollte, distanzierte sich vehement von illusionistischen Ideen. Zugleich sollte mit der türkischen Geschichts und Sprachthese die Neuerfindung und Stärkung der türkischen Geschichte und Identität verstärkt werden. M. Kemal nahm im gesamten Staats und Identitätsbildungsprozess die Funktion des geeigneten und fähigen Führers, eines „Man of Order“ (Zürcher/Atabaki) und Vorbilds, ein. Somit lässt sich auf M. Kemal Webers Auffassung der charismatischen Herrschaft in weiten Teilen übertragen
Der Nationalismusbegriff in Mustafa Kemal Attatürks politischer Ideologie: Entwicklung, Gedeutung und Problematik (1919-1938)
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Marina
Cattaruzza
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2007/2008
Abstract