"Den lasse ich umlegen, das wird unser Verräter". Endphasenverbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung, 1945

AutorIn Name
Michel
Scheidegger
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Stig
Förster
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2016/2017
Abstract
Die letzten zehn Monate des „Dritten Reiches“ waren mit unvorstellbaren Menschenverlusten verbunden und liessen die Zeitgenossen die schmerzhaften Auswirkungen einer von allen Kriegsparteien betriebenen entgrenzten Kriegsführung noch einmal am eigenen Leibe erfahren. Alleine in diesem Zeitraum gab es in Europa ungefähr gleich viele Tote wie die kompletten militärischen Verluste im Ersten Weltkrieg. Dabei hatte nicht zuletzt die sture Kapitulationsverweigerung Hitlers zur Folge, dass restliche abgekämpfte Wehrmachtsverbände, Überbleibsel der Waffen-SS, der miserabel ausgebildete und ausgerüstete Volkssturm, und im Extremfall sogar fanatisierte 15-jährige Hitlerjugend-Kindersoldaten den Alliierten noch auf dem alten Reichsgebiet teilweise heftigen, verlustreichen Widerstand entgegensetzten. Während die Endkämpfe um das Deutsche Reich tobten, setzte die nationalsozialistische Repressions- und Terrormaschinerie angesichts des unmittelbar bevorstehenden Kriegsendes noch einmal zu einem blutigen Finale der Gewalt an. Ausgelaugte KZ-Häftlinge wurden auf langen und kräftezerrenden „Evakuierungsmärschen“ zu Tausenden in den Tod getrieben, die Folterkeller der Gestapo wurden in einer Art Torschlusspanik kurzerhand leer geschossen und die paranoide Angst vor den Millionen Zwangsarbeitern im Reich führte zu Massakern nach eingeübten Mustern der „Einsatzgruppen“ im Osten. Nebst diesen Verbrechen an „herkömmlichen“ Opfergruppen des NS- Terrors, richtete sich der Terror nun vermehrt auch gegen diejenigen Teile der sogenannten „deutschen Mehrheitsbevölkerung“, welche aus unter- schiedlichen Gründen den geforderten „Durchhaltewille bis zum letzten Mann“ nicht mitzutragen bereit waren. Die Handlungen der deutschen Zivilisten, welche durch diesen Terror verfolgt wurden, waren mannigfaltig und reichten von aktiven Versuchen das Kriegsende schneller herbeizuführen, über das zu frühe Hissen von weissen Flaggen bis hin zu beiläufigen, kritischen Äusserungen über die hoffnungslose Kriegslage. Zivilisten, welche bei derartigen Handlungen von den falschen Personen erwischt oder denunziert wurden, blühte oftmals das harsche Schicksal als „Verräter“ oder „Defätist“ beschildert an Strassenlaternen erhängt zu werden. Die vorliegende Arbeit nimmt genau dieser Kategorie von NS-Verbrechen – man nennt sie spätestens seit der Kategorisierung der Nachkriegsjustiz auch „Endphaseverbrechen“ – in den Fokus und fragt dabei nach den Ursachen wie auch den Motiven der Täter. Warum kam es also in den buchstäblich letzten Minuten des Krieges noch zu diesem sinnlosen Gemetzel an den nach NS-Ideologie als „arische Herrenrasse“ verklärten „Volksgenossen“, und wer ist für dieses Morden verantwortlich? Diese Fragestellungen werden aus zwei unterschiedlichen Perspektiven beantwortet: In einem ersten Schritt wird u.a. durch eine Analyse von offiziellen Befehlen, Verordnungen und Erlässen „von oben“ die schrittweise Radikalisierung der Befehle gegen die eigene Bevölkerung nachgezeichnet und dabei ein strukturelles Muster der Radikalisierung herausgearbeitet. So werden für alle noch zur Verfügung stehenden Repressionsorgane des sterbenden Dritten Reiches Regelungen zur Errichtung von Standgerichten geschaffen, die Kompetenzen dazu gleichzeitig hierarchisch möglichst weit nach unten abgeschoben und die Zuständigkeitsgrenzen dieser dadurch entstandenen Litanei an zivilen, militärischen sowie polizeilichen Standgerichten weitestgehend aufgelöst. Dieser blutige Terror im Mäntelchen der Justiz wurde schliesslich spätestens ab März 1945 sogar komplett zugunsten von reinen Erschiessungsbefehlen aufgegeben. Offensichtlich hielt das Regime nun selbst eine juristische Verbrämung des Terrors nicht mehr für nötig, und es sind verschiedene Befehle aus der Feder von Heinrich Himmler, aber auch der Wehrmachtsführung und vereinzelten militärischen Oberbefehlshabern bekannt, welche zum rücksichtslosen Gebrauch der Waffe gegen „durchhalteunwillige“ Zivilisten aufriefen. Besonders berühmt geworden ist dabei Himmlers Flaggenerlass, in welchem dieser – nach einer entsprechenden Aufforderung des Oberkommandos der Wehrmacht (!) – sämtliche männliche Personen in einem weiss beflaggten Haus für vogelfrei erklärte. Aus dieser Radikalisierung der Befehle resultierte ein zu allen Mitteln legitimierter und allzuständiger Terrorapparat. Durch das Dezentralisieren vom Entscheidungskompetenzen über Leben und Tod auf die niedrigsten hierarchischen Ebenen wurde zusätzlich eine brandgefährliche Dynamik in Gang gesetzt, wobei – und hier kommt nun eine zusätzliche „bottom up“-Analyse von exemplarischen Endphaseverbrechen ins Spiel – eine zusätzliche Radikalisierung von unten stattfand. Die lokalen Handlanger des Regimes arbeiteten den Erwartungshaltungen ihrer Vorgesetzten nicht nur so gut als möglich entgegen, sondern trieben den Terror eigenständig voran. Ihre noch nie dagewesene Macht nutzten sie gezielt dazu aus, um bereits lange schwelende Konflikte in ihrem lokalen Umfeld zu bereinigen. So kann anhand der Rekonstruktion von Endphaseverbrechen aus den Strafurteilen der Nachkriegsjustiz exemplarisch aufgezeigt werden, dass u.a. nachbarschaftliche Mietstreitigkeiten und dorfpolitische Auseinandersetzungen zu einem massgebenden Tatmotiv wurden. In der Betrachtung konkreter V erbrechen wird auch deutlich, dass eine Stilisierung der deutschen Zivilisten als „Opfer“ der Komplexität der Sache nicht gerecht wird. So kooperierten Zivilisten vor Ort aktiv mit den Repressionsorganen, deckten die Täter oder lieferten z.B. durch Denunziation ihre unliebsamen Gegner gezielt dem Endphaseterrror aus. Auch diese Randgruppe der NS-V erbrechen basierte auf einer breiten Partizipation vieler staatlicher und militärischer Organisationen sowie gesellschaftlicher Gruppen.

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