Call for papers
Krise und Neoliberalismus in der Schweiz
Autor/innenworkshop vom 23./24. Juni 2017 in Bern
Die globale Hegemonie des Neoliberalismus ist seit der Finanzkrise von 2007/08 zwar nicht gebrochen, das neoliberale Projekt hat aber viel vom Nimbus des Alternativlosen eingebüsst. Die scheinbar naturgegebene und ewigwährende Herrschaft des Marktes ist als kontingente Erscheinung denkbar geworden. Und vom Moment an, da das Ende seiner Geschichte in den Bereich des Vorstellbaren rückte, drängten sich mit neuer Vehemenz auch Fragen nach den Anfängen und der Durchsetzung des Neoliberalismus auf. Im Zuge dieser Historisierung der Gegenwart entdeckte die Geschichtswissenschaft ihr Interesse an den Umwälzungen, die unter den Vorzeichen neoliberaler Reformen in den letzten vier Jahrzehnten alle erdenklichen Lebensbereiche erfasst haben. Was zuvor fast ausschliesslich Gegenstand sozial- und politikwissenschaftlicher Forschung war, ist damit seit einigen Jahren in den Bereich der historischen Reflexion gerückt. Mit der Hinwendung zum Neoliberalismus haben Historiker_innen ihren Blick auch auf frühe wissenschaftliche Diagnosen dieses Wandels gerichtet und damit dem Spätwerk von Michel Foucault zu einer neuen Aufmerksamkeit verholfen.
Ob Michel Foucault derjenige Forscher war, der die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten am stärksten und nachhaltigsten geprägt hat, mag umstritten sein. Unbestritten ist hingegen, dass er als kritischer Zeitzeuge bis heute wenig wissenschaftliche Beachtung geschenkt wurde. Dies ist erstaunlich, verstand er es doch, politische Ereignisse, sozioökonomische Brüche und gesellschaftliche Entwicklungen früh zu erkennen, präzise zu beschreiben und originell zu deuten. Eines dieser Phänomene war «der Neoliberalismus», den Foucault im Rahmen seiner Gouvernementalitäts-Vorlesungen 1978/79 am Collège de France behandelte. Interessant dabei ist nicht nur der Versuch, diese neue «liberale Regierungsrationalität» zu analysieren. Spannend ist vor allem die Ungewissheit, die Foucault mit Blick auf die Zukunft des neoliberalen Projekts immer wieder äusserte. So fragte er, ob der Neoliberalismus sein wirkliches Ziel durchsetzen könne, „nämlich eine allgemeine Formalisierung der Staatsmacht und der Organisation der Gesellschaft auf der Grundlage einer Marktwirtschaft. Kann der Markt wirklich die Kraft der Formalisierung sowohl für den Staat als auch für die Gesellschaft haben?» Foucault konnte auf diese Fragen keine Antworten mehr geben. Die Implementierung des Neoliberalismus steckte bei seinem Tod 1984 erst in den Anfängen. Für ihn war der Anfang dieser «schleichenden Revolution» (Wendy Brown) zwar erkennbar, doch blieben deren Auswirkungen letztlich fraglich – nicht zuletzt deshalb sprach er von einer «historischen Wette» mit ungewissem Ausgang.
Aus einer historischen Perspektive erstaunt Foucaults Ungewissheit wenig, waren die 1970er-Jahre doch eine tiefgreifende Umbruchphase «nach dem Boom» (Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael). Seine Zeitdiagnose verweist auf ein brachliegendes heuristisches Potenzial, das im Zentrum des Autor_innenworkshops «Krise und Neoliberalismus in der Schweiz» stehen soll. Ausgehend von Foucaults These, dass sich in den 1970er Jahren eine neue Regierungsrationalität zu verfestigen beginne, soll die Entstehung des Neoliberalismus als ereignisoffener, historischer Prozess diskutiert werden. Um zu klären, ob und in welchen Bereichen der «Markt» als regulatives Strukturprinzip den Staat zu informieren, die Gesellschaft zu reformieren und neue Subjekte zu formieren vermochte, möchten wir uns für eine historiografische Problemwahrnehmung starkmachen, welche die beiden Phänomene «Krise» und «Neoliberalismus» zusammendenkt.
«Krisen» verstehen wir dabei kulturwissenschaftlich als Selbst- und/oder Fremddiagnosen, und insofern als Narrative von Teilen oder der gesamten Gesellschaft, mit denen versucht wird, individuelle Verlusterfahrungen und Beschleunigungen des sozialen Lebens einzufangen, institutionelle Notlagen zu beschreiben und gesellschaftliche Unordnungen zu reflektieren. Historiographisch können «Krisen» einerseits als Tragödie à la Hayden White oder Verfallsgeschichte aufgefasst werden, andererseits aber auch als Erfolgsstory oder als Neuanfang wahrgenommen werden, der Entscheidungen verlangt und «Fortschritt» einleitet. Beide Deutungen können zudem strukturalistisch verstanden werden. Sowohl die erste als auch die zweite Deutung scheint uns heuristisch geeignet, die disparaten Entstehungsfelder des Neoliberalismus zu markieren und Neoliberalisierungsprozesse als spezifische Art der Krisenbewältigungen – und in diesem Sinne als Regierungstechniken – zu verstehen.
Empirisch gerechtfertigt scheint uns diese Vorgehensweise, weil die 1970er Jahre im Selbstverständnis und der Wahrnehmung vieler in westlichen Industriestaaten lebender Menschen eigentliche Krisenjahre waren: Von den beiden «Ölkrisen» und der «Krise des Sozialstaates» über die «Krise der Ehe», die «Krise des Glaubens», die «Krise der Männlichkeit» und die «Midlife-Crisis» bis hin zur «Krise des Quartierlädelis». Insgesamt erweiterte sich das Feld der Krisensemantik fortlaufend, immer weitere Phänomene wurden mithilfe des Krisenbegriffs problematisiert und medial thematisiert. Es herrschte Dauer-Krisenstimmung, verbunden mit irritierender Orientierungslosigkeit und verbreiteter Zukunftsangst.
Für die neue, regulative Programmatik, die im «Markt» das Allheilmittel für die Lösung aller denkbaren Probleme erkannte, bot die Dauerkrise der 1970er Jahre eine einmalige Chance. Um den Neoliberalismus als Lösungsansatz zur Bewältigung von «Krisen» oder eben als Krisen-Regierungstechnik zu begreifen, gehen wir davon aus, dass im Reden über «Krisen» Konsens über Sachzwänge und Zukunftsfiktionen hergestellt werden. Wir verstehen Krisendiskurse somit als zukunftsweisende Orientierungsdiskurse, in denen politische Rezepte verhandelt und mehrheitsfähig werden. Umgekehrt, so eine unserer zentralen Thesen, sind es gerade neoliberale Diskurse und Praktiken, welche diese «Krisen» machen. Der Neoliberalismus als Krisen-Regierungstechnik produziert fortlaufend die «Krisen», auf die er angewiesen ist.
Ausgehend von diesen Annahmen suchen wir für das Buchprojekt quellenbasierte Beiträge, die an folgende Fragestellungen anschliessen: Erstens interessieren die verschiedenen, von neuen Wissensformen und Argumentationsweisen, aber auch von neuen Akteursgruppen und Institutionen geprägten Krisendiskurse, in welche die Problemdiagnosen eingebettet waren. Zweitens soll danach gefragt werden, welche neuartigen Lösungsansätze die verorteten «Krisen» zu bewältigen versprachen und mit welchen Argumenten sie älteren und/oder konkurrierenden Ansätzen begegneten. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf den teils selbst berufenen, teil stark nachgefragten «Krisen-Managager_innen» und «Krisen-Expert_innen», z.B. Berater_innen, Trainer_innen, Therapeut_innen, aber auch Wissenschaftler_innen und Intellektuelle. Und schliesslich gilt es drittens zu untersuchen, ob bzw. inwiefern die verhandelten Lösungsansätze die politischen Räume, gesellschaftlichen Verhältnisse und sozialen Lebenszusammenhänge tatsächlich nach Regierungslogiken zu strukturieren vermochten, die sich am «Markt» orientieren.
Der Call richtet sich an Historiker und Historikerinnen. Der Fokus des Workshops liegt auf der Zeit nach 1970 – angestrebt wird also eine Geschichte der Gegenwart. Gesucht sind vorwiegend quellenbasierte Beiträge zum Fallbeispiel der Schweiz. Dabei geht es nicht primär darum, nationale Besonderheiten herauszustreichen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass sich globale Prozesse in lokalen Verhältnissen realisieren und umgekehrt zeitgenössische Krisendiskurse und Herrschaftstechniken den nationalen Rahmen transzendieren.
Für die Präsentation und Diskussion der vorgängig zu verschickenden Beiträge sind am 23./24. Juni 2017 je rund 45 Minuten vorgesehen. Ziel ist es, erste Forschungsergebnisse, Überlegungen und Thesen zur Diskussion zu stellen und im Rahmen des Buchprojekts zu koordinieren. Der Workshop ist nicht öffentlich, es werden jedoch wissenschaftliche Kommentator_innen anwesend sein. Wir streben zudem eine peer-to-peer Diskussion der einzelnen Beiträge an, auf deren Basis die Buchbeiträge finalisiert und in einem zweiten Workshop am 6./7. Oktober 2017 vorgestellt werden sollen.
Wir freuen uns auf Forschungsskizzen von 2-3 Seiten und bitten um Einreichungen per E-Mail an: leena.schmitter@hist.unibe.ch
Einsendeschluss ist der 31.01.2017. Die Benachrichtigung über eine Annahme erfolgt bis Ende Februar 2017.
Organisiert von
Regula Ludi, Matthias Ruoss, Leena Schmitter (Universität Bern)
Veranstaltungsort
Universität Bern
-
3000
Bern