Nachdem während Jahrzehnten ein ausgeprägtes Defizit bestanden hatte, wurde die Pazifismusforschung seit ungefähr Mitte der siebziger Jahre - besonders in Deutschland· intensiver betrieben; diese Tendenz manifestierte sich mit einiger Verspätung auch in der Schweiz. Vorliegende Dissertation befasst sich mit demZeitraum von den Anfängen der Friedensbewegung bis zum Ersten Weltkrieg, der in der Entwicklung des Pazifismus einen tiefen Einschnitt markierte.
Im Bereich der bürgerlichen Friedensbewegung hatte der Verfasser eine eigentliche Terra incognita zu erschliessen. Etwas anders lagen die Dinge bei der Arbeiterbewegung; ihre allgemeine Geschichte ist· vor allem dank der Untersuchungen Erich Gruners - gut bekannt; es stellte sich aber die spezielle Aufgabe, die Haltung der Arbeiterbewegung zur Problematik von Krieg und Frieden genauer abzuklären.
Methodisch ist die Arbeit einem breit verstandenen gesellschaftsgeschichtlichen Ansatz verpflichtet. Die pazifistischen Bemühungen werden im Kontext der 'Fundamentaldimensionen" (Wehler) Oekonomie, Sozialstruktur, Politik und Kultur zu erfassen gesucht.
Die Dissertation ist in vier Teile gegliedert. Kapitel I bietet einen Ueberblick über die grundlegenden pazifistischen Strömungen des 19. Jahrhunderts. Die Kapitel II bis V behandeln die bürgerliche Friedensbewegung in der Schweiz, die Kapitel VI und VII die pazifistischen Tendenzen in der schweizerischen Arbeiterbewegung. Das abschliessende Kapitel VIII klärt die Kooperationschancen zwischen beiden Bewegungen ab.
Aus der regionalen Verteilung der mitgliederreichsten Sektionen des - 1895 gegründeten - Schweizerischen Friedensvereins lässt sich der Schluss ziehen, dass die Chancen für eine prosperierende Friedensbewegung in jenen Gebieten am grössten waren, in denen folgende Voraussetzungen zutrafen:
• Teilhabe an der ökonomischen Modernisierung (Wachstum des 2. und/oder 3. Sektors) · dominierende oder zumindest starke Stellung der freisinnigen Parteien
• dominierender oder zumindest starker Anteil der protestantischen Konfession.
Ihrer sozialen Herkunft nach gehörten die weitaus meisten Mitglieder des Schweizerischen Friedensvereins zu den Schichten des Bürgerblocks. Im Unterschied zu Deutschland wies die schweizerische Friedensbewegung einen hohen Anteil an Mitgliedern aus dem Besitz- und Bildungsbürgertum auf.
Die Exponenten des Schweizerischen Friedensvereins vertraten zwar die gleichsam klassischen Postulate der Friedensbewegung (Schiedsgerichtsbarkeit, Staatenföderation, Abrüstung). Im Unterschied zu den Pazifisten der ersten Jahrhunderthälfte wiesen sie aber den Manchesterliberalismus zurück und forderten zur Integration der Arbeiterschaft in die gegebene Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eine staatliche Interventionspolitik. Die Realisierung der pazifistischen
Ziele wurden demnach als Voraussetzung für jede erfolgversprechende Sozialreform betrachtet. Die Ursache für die partielle Verlagerung des pazifistischen Diskurses - der Verfasser spricht von Sozialpazifismus - liegt in den veränderten sozioökonomischen Bedingungen (organisierter Kapitalismus).
Die Haltung des Bundesrats zur Friedensbewegung erweist sich im internationalen Vergleich als relativ konziliant; dies aus drei Gründen:
1. Der Bundesrat subventionierte das Internationale Friedensbüro am längsten und mit dem insgesamt höchsten Betrag. 2. Dort, wo der Bundesrat der Friedensbewegung entgegenkam, geschah dies nicht einfach aus politisch-taktischem Kalkül, sondem aus zumindest partieller Sympathie für die pazifistischenZiele.
3. Mitglieder der schweizerischen Landesregierung (Ruchonnet Comtesse) waren direkt mit der Friedensbewegung liiert.
Das Verhältnis der schweizerischen Arbeiterbewegung zur Friedensbewegung war von folgendem Grundmuster geprägt:
Vertreter eines marxistisch inspirierten proletarischen Internationalismus (beispielsweise der frühe Hennann Greulich, Carl Moor, Charles Naine) lehnten den bürgerlichen Pazifismus kompromisslos ab. Der bürgerlichen Friedensbewegung wurde vorgeworfen, die ökonomisch-klassenstrukturellen Ursachen des Krieges nicht zu durchschauen und den Frieden ohne prinzipielle Umgestaltung der sozioökonomischen Verhältnisse verwirklichen zu wollen.
Rechtssozialisten dagegen, Insbesondere Grütlianer, hegten Sympathien für die Friedensbewegung; Howard Eugster Züst, welcher der vom Grüdianer Jakob Hertz geleiteten Sektion Herisau angehörte, trat beispielsweise dem Schweizerischen Friedensverein bei.
Die Verschärfung der Klassenkämpfe (Streiks), die Scheidung der Gesellschaft in einen Bürger- und einen Proletarierblock, die zunehmende Rezeption des Marxismus auch auf der Parteirechten setzten nach der Jahrhundertwende der Kooperation zwischen Arbeiterbewegung und Friedensbewegung immer engere Grenzen. Daran vennochte auch die deutsch-französische Parlamentarierkonferenz vom Mai 1913 in Bam nichts zu ändern, die vom Chef des Internationalen Friedensbüros, Albert Gobat, und dem führenden Parteilinken Robert Grimm gemeinsam vorbereitet wurde.
Wie wurde die für dieZweite Internationale so entscheidende Problematik "Generalstreik und Krieg" in der Schweiz erörtert? Einen allfälligen Weltkrieg zu verhindern, stand natürlich nicht in der Macht des Proletariats des neutralen Kleinstaats Schweiz. Die Diskussion warf daher hier nicht gleich hohe Wellen wie in den Arbeiterparteien der Grossmächte. Als Fazit kann festgehalten werden, dass innerhalb der SPS der Glaube, die Arbeiterbewegung könne durch den Generalstreik dem Ausbruch eines grossen bewaffneten Konflikts zuvorkommen, gering war.
Zum Schluss sei auf einige weitere in der Dissertation behandelte Aspekte des pazifistischen Diskurses der Arbeiterbe wegung hingewiesen: Kriegsätiologie; Realisierungschancen fOr Sozialismus und Frieden; Gewalt als Mittel zur Systemüberwindung; Darwinismusrezeption.