Bénédict Augustin Morel, ein französischer Psychiater, schreibt 1857 eine Abhandlung mit dem Titel "Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine et des causes qui produisent ces variétés maladives". Morel stellt in dieser Abhandlung eine Theorie zur „Degeneration“, zur Entartung des Menschen auf, wobei er einerseits die Ursachen dieser „Degeneration“ entschlüsselt und andererseits einen Plan zur Regeneration erstellt.
Das Bemerkenswerte an Morels Theorie ist, dass diese im eigentlichen Sinne wissenschaftlich ist, jedoch einen theologischen Ursprung hat. Degeneration wird gemäss Morel erst durch den Sündenfall möglich. Morel verbindet den religiösen mit dem wissenschaftlichen Diskurs und dies in einem Jahrhundert, das als Jahrhundert der Säkularisierung gilt. Die Frage, die sich deshalb stellt, ist, wie sich eine theologische fundierte Theorie in den wissenschaftlichen Diskurs einordnen lässt, der infolge des Säkularisierungprozesses sich eigentlich schon längst des religiösen Elements entledigt hat.
Diese Arbeit geht dabei davon aus, dass Religiosität in Morels Theorie nicht nur einen Platz einnimmt, sondern vielmehr der dominanteste Diskurs in seiner Theorie ist. Daher soll anhand von Begriffen und Konzepten in Morels Theorie insbesondere die Religiosität herausgearbeitet werden. Damit soll die folgende These überprüft werden:
Morel versuchte mit seiner Degenerationstheorie den religiösen Diskurs mit dem wissenschaftlichen Diskurs zu verbinden. Die stark und durchgehend präsente Religiosität dominiert dabei die wissenschaftliche Argumentation des Traités. Morel baut eine wissenschaftliche Theorie auf einem religiösen Fundament. Dies lässt dabei vermuten, dass Morel versuchte, der Religion inmitten der Wissenschaften wieder einen prominenten Platz zu verschaffen. Es ging ihm also nicht lediglich um eine Fusion von Religion und Wissenschaft, sondern vielmehr um eine Reevaluation des Religiösen im wissenschaftlichen Diskurs. Die Religiosität in Morels Theorie ist dabei nicht übersehbar. Dies deutet darauf hin, dass Religion in einer wissenschaftlichen Theorie Platz einnehmen kann, wenn diese Theorie wissenschaftlich vorgeht und auf wissenschaftliche Fragen eine Antwort bietet. Morels Theorie wäre damit ein Beispiel dafür, dass Wissenschaft und Religion im 19. Jahrhundert eine „Fusion“ eingehen können, sofern ein wissenschaftlicher Erklärungswert gegeben ist.