Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Gerlach
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2016/2017
Abstract
Kein anderes Jahrhundert ist so zahlreich an genozidären Massakern wie das 20. Jahrhundert. Eine Fülle historischer Einzelfälle dokumentiert die Vernichtungspolitik verschiedener Staaten meist gegenüber einzelnen Minderheiten. Auch im zentralafrikanischen Ruanda – die Nation wurde 1962 von der UN-Mandatsmacht Belgien in die Unabhängigkeit entlassen – vollzog sich zwischen April und Juni 1994 ein Völkermord, der primär gegen die Volksminderheit der Tutsi und oppositionelle Regimekritiker gerichtet war. Innert 100 Tagen verloren schätzungsweise 800'000 Personen ihr Leben und gut 4 Millionen Menschen der ruandischen Bevölkerung wurden in die Flucht getrieben. Dabei wird gerade in wissenschaftlichen Beiträgen immer wieder auf die Rolle und Funktion moderner Medien und auf deren Mitschuld am Massenmord hingewiesen. Die Masterarbeit befasst sich ausschliesslich mit den Programminhalten des Radiosenders Radio Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) von Juli 1993 bis Juli 1994, welches in wissenschaftlichen Beiträgen teilweise als „Hass-Radio“ bezeichnet wird. Dabei wird den Fragen nachgegangen, welche Inhalte in den Radiosendungen durch die RTLM-Moderatoren an die Bevölkerung vermittelt wurden und wie diese Inhalte klassifiziert werden können. Ferner wird die Arbeit geleitet durch die Frage, ob der wissenschaftlich weit verbreiteten Ansicht, dass die Moderatoren von RTLM primär zum Mord an der Bevölkerungsminderheit der Tutsi und oppositionellen Politikern aufriefen, widersprochen werden kann und ob dementsprechend auch Aussagen ausgestrahlt wurden, die auf eine Versöhnung der verfeindeten Ethnien abzielten. Schliesslich soll geklärt werden, ob die angesprochenen Inhalte zu verschiedenen Zeitpunkten im untersuchten Zeitraum unterschiedlich stark gewichtet wurden bzw. ob sich der Inhalt der Radiosendungen im Laufe der Zeit veränderte. Der Quellenbestand, der die Grundlage dieser Arbeit bildet, besteht aus Transkriptionen der Radiosendungen, die aufgrund juristischer Prozesse gegen federführende am Genozid beteiligte Personen im Auftrag vom International Criminal Tribunal for Rwanda erstellt wurden. Der Quellenkorpus dieser Arbeit, der aus 73 in Englisch und/oder Französisch niedergeschriebenen Texten besteht, umfasst knapp 1000 A4-Seiten. Nicht alle vom Ad-hoc-Strafgerichtshof zu Verhandlungszwecken herangezogenen Transkriptionen können öffentlich eingesehen werden, aber alle zur Erstellung dieser Masterarbeit herangezogenen Transkriptionen sind publiziert und können unter anderem auf der Internetseite www.rwandafile.com eingesehen werden. Am ehesten kann die für die Arbeit angewandte Methode als Methodenmix bzw. als Triangulation verschiedener einzelner Methoden angesehen werden. Die Arbeit bedient sich einiger Elemente der klassischen Quellenkritik, einiger Elemente einer Inhaltsanalyse sowie einiger Elemente quantitativer Methoden.
Gesamthaft konnten 18 verschiedene Narrative erkannt werden, die im untersuchten Zeitraum von RTLM unterschiedlich stark gewichtet wurden. Dabei konnten sowohl Aussagen bzw. Textpassagen gefunden werden, die bestätigen, was die aktuelle Forschungsliteratur bereits festhält, aber auch solche, die bisher kaum thematisiert wurden. Das Quellenstudium ergab, dass es sehr wohl auch Versuche und Aufrufe zu moderatem und versöhnlichem Verhalten sowie Kritik an Plünderungen auch durch Anhänger der Regierung gab. Der Begriff „Hass-Radio“ ist also so nicht haltbar, zumindest ist er als undifferenzierte Verkürzung zu bezeichnen. Klar konnte in den Sendeprotokollen Hass, Diffamierung, pauschale Verteufelung und Anstiftungen zu Mord festgestellt werden, wobei diese argumentativ immer wieder in einen Kriegskontext gestellt wurden, aber eben auch Aufrufe zur Mässigung, zur Beruhigung und zur Aussöhnung.
Die Arbeit verfolgt das Ziel, einerseits die Leserschaft über den Inhalt der Radioprogramme von RTLM im untersuchten Zeitraum detailliert zu informieren und anderseits einen Beitrag zur aktuellen Forschung über den Genozid in Ruanda und der Funktion der damit in Zusammenhang stehenden Medien, wie RTLM eines war, zu leisten.