Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Gerlach
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2013/2014
Abstract
Im Juli 1968 brach in Hong Kong eine Grippeepidemie aus, wie sie seit Jahren nicht mehr beobachtet worden war. Innerhalb von drei Wochen erkrankten dort eine halbe Millionen Menschen. Der Grund für das Ausmass des Ausbruches war bald gefunden: Das Influenzavirus war radikal mutiert. Die neue Variante des Grippeerregers traf in der Bevölkerung kaum auf Immunitäten und sämtliche Impfstoffe versagten ihre Wirkung. Die Grippe konnte sich ungehindert ausbreiten. Innerhalb eines Monates wurden Ausbrüche aus verschiedenen südostasiatischen Ländern gemeldet. Im Oktober erreichte die sogenannte Hong Kong-Grippe die USA und nach der Jahreswende auch Europa. Innerhalb weniger Monate hatte sich das neue Virus auf den gesamten Globus ausgebreitet.
Dies war die dritte Grippe-Pandemie des 20. Jahrhunderts – und mit rund einer Million Todesopfern die mildeste dieser globalen Grippewellen. So waren der Spanische Grippe 1918/19 weltweit zwischen 40 und 100 Millionen Menschen erlegen. Vor diesem Hintergrund entstand bis zur Jahrhundertmitte eine internationale Institution, die sich der Erforschung der Krankheit annahm – das Grippeprogramm der Weltgesundheitsorganisation WHO. In den 1950er-Jahren erwuchs daraus ein globales Netzwerk von national verankerten Forschungslabors. Ziel des Programmes war insbesondere die Überwachung des Grippevirus. Mutationen sollten frühzeitig erkannt und die Produktion wirksamer Impfstoffe umgehend eingeleitet werden. Nur so könnte eine neuerliche Pandemie wirksam eingedämmt werden, so die damalige Überzeugung.
1957 kam es schliesslich zur zweiten Pandemie des Jahrhunderts. Rund eineinhalb Millionen Menschen starben weltweit. Die Rolle der WHO während der sogenannten Asiatischen Grippe ist historisch relativ schwach aufgearbeitet. Es gibt aber kaum Anzeichen, dass die Aktivitäten des Grippeprogrammes einen nennenswerten Einfluss auf den Pandemieverlauf hatten. Das Frühwarnsystem versagte damals und die Impfstoffproduktion lief zu spät an. Noch schwächer erforscht ist die Rolle der WHO bei der dritten Pandemie des Jahrhunderts. In der nun vorliegenden Arbeit wurden deshalb die internen Abläufe und Aktivitäten während der Hong Kong Grippe von 1968-70 detailliert aufgearbeitet. Die konsultierten Quellen im WHO-Hauptquartier in Genf weisen darauf hin, dass es dem Grippeprogramm erneut nicht gelungen war, den Pandemieverlauf zu beeinflussen.
Die erste Kernaufgabe des WHO-Grippeprogrammes, die Frühwarnung, konnte nur mit einer gewissen Verzögerung wahrgenommen werden. Erst durch einen Medienbericht wurde die WHO in Alarmbereitschaft versetzt. Die zweite Aufgabe, die Überwachung des Virus, konnte ebenfalls nur bedingt wahrgenommen werden. Gerade in Südostasien muss die Kooperation verschiedener nationaler Labors als mangelhaft bezeichnet werden. Auch die dritte Kernaufgabe, die Einleitung der Impfstoffproduktion, war von Rückschlägen geprägt. Zwar wurde der neue Virenstamm nach seiner Identifikation umgehend an öffentliche und private Labors weltweit verschickt. Wie bereits 1957 standen aber auch 1968 bis zum Höhepunkt der Grippesaison in der nördlichen Hemisphäre nur unzureichende Mengen an Impfstoff bereit.
Zunächst waren strukturelle Aspekte verantwortlich für den fehlenden Einfluss der WHO auf den Pandemieverlauf. Das von Genf aus koordinierte Netzwerk war insbesondere bei der Informationsbeschaffung abhängig von der Kooperationsbereitschaft nationaler Labors. Gerade in Ländern mit schwachen Gesundheitssystemen war aber nicht nur diese Mithilfe, sondern auch die übermittelten Daten mangelhaft. Noch während der Pandemie wurden innerhalb der WHO Reformen angestossen, welche diese Mängel adressierten. Kurzfristig kam der Aufbau eines wöchentlichen Meldesystems aber zu spät, mittelfristig scheiterte die Einführung eines globalen Standardindikators, und langfristig fehlte innerhalb der WHO der politische Wille zu einem gross angedachten Ausbau des Netzwerkes.
Mit einem Blick in die Presseberichterstattung ausgewählter Länder konnte aber auch ein konzeptioneller Mangel des WHO-Ansatzes ermittelt werden. Die Umsetzung von konkreten Massnahmen wurde weitgehend den Gesundheitsbehörden in den Mitgliedsstaaten überlassen. In den nationalen Diskursen wurde der Einsatz der von der WHO propagierten Impfstoffe kontrovers diskutiert. Nationale Behörden agierten in diesem Umfeld eher unbeholfen und leiteten kaum nennenswerte Pandemiepläne ein.
Die tiefe Priorität der Grippe bei nationalen Labors und innerhalb der WHO schränkten also die Möglichkeiten des glob alen Grippeprogrammes massgeblich ein. Gescheitert ist das Pandemiemanagement aber auf nationaler Ebene.