„Kaiseraugst besetzt!“ Die Bewegung gegen das geplante Atomkraftwerk

AutorIn Name
David
Häni
Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof. Dr.
Christian
Rohr
Institution
Historisches Institut, Universität Bern
Ort
Bern
Jahr
2015/2016
Abstract

Die Auseinandersetzung um den Bau des Atomkraftwerks Kaiseraugst vor den Toren der Stadt Basel gehört zu den wichtigsten Ereignissen der Schweizer Umweltgeschichte in den letzten Jahrzehnten. Der Protest gegen das geplante energiewirtschaftliche Infrastrukturpro- jekt gipfelte in der Besetzung des Baugeländes durch die „Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst“ (GAK). Nach einem jahrelangen vergeblichen Tauziehen zwischen den Gegnern und Befür- wortern der Atomenergie, das teils sogar in Parlamenten und Gerichtssälen ausgetragen wurde, gelang es den Atomkraftgegnern mit der Platzbesetzung schlussendlich, grosse Teile der Nordwestschweizer Bevölkerung gegen das Bauvorhaben zu mobilisieren und den politi- schen Druck auf die Bundesbehörden und die Bauherrschaft permanent zu erhöhen. 

 

Im Fokus der vorliegenden umwelt- und sozialhistorischen Dissertation über den Widerstand gegen das AKW Kaiseraugst steht die Bauplatzbesetzung, die vom 1. April bis zum 11. Juni 1975 dauerte. Nicht zuletzt dank der grossen Resonanz in den Massenmedien führte dieses riskante Unterfangen zu einem enormen Aufschwung der gesamtschweizerischen Anti-AKW- Bewegung. Insbesondere aber hatte dieser Akt des zivilen Ungehorsams durch aufgebrachte Bürger einen nachhaltigen, in vielerlei Hinsicht sogar entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung des Widerstands gegen das projektierte Kernkraftwerk in der Nordwestschweiz. Die Beschlagnahmung des AKW-Geländes, auf dem die Okkupanten ein Zelt- und Bara- ckendorf errichteten, blockierte die Aufnahme der Bauarbeiten und erwirkte dadurch ein Timeout, welches den Bauplatz zu einem Kristallisationspunkt von Diskursen über Atom- energie, Demokratie, Rechtsstaat, Föderalismus, Wirtschaftswachstum und Umweltschutz werden liess. 

 

Obwohl die Atomkraftgegner nach ihrer freiwilligen Räumung des Besetzerdorfs weit davon entfernt waren, ihr Hauptanliegen – die Verhinderung des Kernkraftwerks Kaiseraugst – durchzusetzen, erzielten sie mit ihrer Aktion dennoch einen beachtlichen Teilerfolg: Als Ent- gegenkommen für ihren Rückzug erhielten sie die verbindliche Zusage, dass ein vorläufiger Baustopp eingehalten und sofortige Verhandlungsgespräche zwischen einer Delegation von AKW-Gegnern und dem Bundesrat sowie seiner Expertenkommission angesetzt wurden. Auf diese Weise kam die Anti-AKW-Bewegung endlich zu der lang ersehnten Plattform, die es den Fachleuten aus ihren Reihen ermöglichte, ihre Einschätzungen der Sachverhalte auf Augenhöhe mit den Bundesbehörden darzulegen. Damit war der Bewegung ein wichtiger Schritt nach vorn gelungen – auch wenn es anlässlich der Konferenzen nicht zu einer Annä- herung zwischen den beiden Verhandlungsparteien kam.
Dank des Aktes des zivilen Ungehorsams gelang es der äusserst heterogen zusammenge- setzten Gegnerschaft, eine von den staatlichen Behörden bereits getroffene Entscheidung vorerst ins Wanken und schliesslich sogar zu Fall zu bringen, dies unter anderem, weil im- mer mehr Menschen aus allen Generationen und Gesellschaftsschichten mit der Bewegung sympathisierten oder sich ihr anschlossen. Damit wurden ihr auch umfangreichere Ressour- cen in Form von Arbeitsleistungen, Know-how und finanzieller Unterstützung zur Verfügung gestellt. Diese konnten aufgrund der gut funktionierenden, auf die individuellen Fähigkeiten der Akteure abgestimmten Organisation auch effizient eingesetzt werden. Obwohl letztlich eine Vielzahl unterschiedlicher Ursachen zur Aufgabe des vorgesehenen Kernkraftwerkpro- jekts führten, ist festzuhalten, dass ohne das entschlossene und mutige Vorgehen der Be- setzer heute in der Agglomeration von Basel zweifelslos ein Atommeiler stünde. Angesichts dieses Szenarios zeigt sich, dass die Bauplatzbesetzung von Kaiseraugst eine nachhaltige Wirkung erzeugte. Im kollektiven Bewusstsein der schweizerischen Anti-AKW-Bewegung wurde sie sogar zum Inbegriff des erfolgreichen Widerstands schlechthin und steht auch aktuell noch als Beispiel dafür, dass ziviler Ungehorsam – selbst in einer direkten Demokra- tie wie der Schweiz – durchaus ein taugliches Mittel der politischen Artikulation sein kann. Der Streit um das Kernkraftwerk Kaiseraugst führte der Öffentlichkeit aber auch exempla- risch vor Augen, dass letztlich nicht einmal die Demokratie immer in der Lage ist, gesell- schaftliche Spannungen befriedigend zu lösen, da sie den Interessen von Minderheiten nicht immer ausreichend Rechnung zu tragen vermag. 

Anti-AKW-Bewegungen gelten als typische Ausdrucksformen der neuen sozialen Bewegun- gen. Dieser Bewegungstyp, der im Gefolge der Studentenrevolte ab den 1970er-Jahren in westlichen Industriegesellschaften in Erscheinung trat, weckte schon bald ein reges Interes- se der Fachdisziplinen Soziologie und Politologie. Somit machte es nach methodischen Ge- sichtspunkten Sinn, bei der vorliegenden sozialhistorischen Untersuchung interdisziplinär vorzugehen und das begrifflich-theoretische Instrumentarium der soziologischen Bewe- gungsforschung als Referenzrahmen zu nutzen. Dabei verschreibt sich die Dissertation je- doch konzeptuell keinem bestimmten theoretischen Ansatz. Dank der wissenschaftlichen Grundlagen aus der Bewegungsforschung liessen sich aber Erklärungsmodelle entwickeln, die es ermöglichten, bei der Rekonstruktion der Geschichte nicht nur beschreibend, sondern auch analytisch vorzugehen, und den Schritt von der Beschreibung des Forschungsgegen- stands zu dessen Beurteilung zu vollziehen. Definitionen, Klassifikationen, Thesen und The- orien zu neuen sozialen Bewegungen dienten bei der Analyse der historischen Fakten als inspirierende Elemente. 

 

Aus heutiger Sicht – gut vier Jahrzehnte nach der Bauplatzbesetzung – liessen sich dank der Historisierung der Ereignisse neue Perspektiven erschliessen. Dabei profitierte die aktuelle wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema auch von dem mittlerweile erleichter- ten Quellenzugang: So sind dank des Ablaufs der Sperrfristen Akten zum Widerstand zu- gänglich geworden, die früher unter Verschluss standen und daher bis heute in vielen Berei- chen noch unbearbeitet geblieben sind. Zudem stehen der Forschung seit kurzem immer mehr Dokumente aus Privatarchiven zur Verfügung. Aufgrund der Quellenanalyse wurden neue Aspekte der Thematik dargelegt und Fragestellungen behandelt, die in der bisherigen Forschungspraxis noch nicht berücksichtigt worden sind. 

 

Neben der vertieften Auseinandersetzung mit der Phase der Bauplatzbesetzung vermittelt die Dissertation auch einen Überblick über die gesamte Geschichte des Widerstands gegen das AKW Kaiseraugst von den ersten Anfängen der Opposition in den 1960er-Jahren bis zur Aufgabe des Bauvorhabens im Jahre 1988. Anhand dieser Zusammenfassung der Ereignis- se werden dem Leser die wichtigsten historischen Fakten und die wesentlichen Rahmenbe- dingungen des Konflikts vermittelt, die es ihm ermöglichen, die Besetzungsaktion in einem grösseren Zusammenhang zu interpretieren. Insbesondere wird die ausschlaggebende Be- deutung der Okkupation als Angelpunkt zwischen der ersten Phase des Widerstands – als sämtliche rechtlichen Möglichkeiten der Einsprache ausgeschöpft worden waren – und der vom politisch-institutionellen Protest geprägten Zeit nach der Besetzung ersichtlich. 

 


Publikation:
David Häni: Kaiseraugst besetzt! Die Bewegung gegen das Atomkraftwerk (Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte 8). Basel 2018.

PDF

Zugang zur Arbeit

Bibliothek

Akademische Arbeiten werden in der Bibliothek der jeweiligen Universität hinterlegt. Suchen Sie die Arbeit im übergreifenden Katalog der Schweizer Bibliotheken