Kirchliche Erinnerungskultur im französischen Protektorat in Tunesien. Ihre Stiftung durch Lavigerie im Spannungsfeld zwischen Frankreich und Rom (1875–1892)

Nom de l'auteur
Joëlle Sara
Affolter
Type de travail
Mémoire de master
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Christian
Windler
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2009/2010
Abstract
Am 13. Juni 1875 liessen sich die ersten Patres der Société des Missionnaires d’Afrique (Pères Blancs) in Karthago (Tunesien) nieder. Einen Monat vorher hatte ihr Ordensbegründer, der Erzbischof von Algier, Charles Lavigerie, Papst Leo XIII. um die Übertragung der Pflege der Saint-Louis-Kapelle in Karthago gebeten. Er begründete sein Anliegen mit dem französischen Nationalcharakter der Kapelle, zu deren Pflege es französischer Geistlicher bedürfe. Die zwischen 1840 und 1841 gebaute Kapelle war dem Kreuzfahrerkönig Ludwig IX. (genannt der heilige Ludwig) gewidmet, welcher der Legende nach 1270 während des Siebten Kreuzzuges gegen Tunis in Karthago verstorben war. Das Grundstück, auf dem der Bau der Kapelle erfolgte, hatte der Bey von Tunis 1830 dem König von Frankreich geschenkt — vor dem Hintergrund der französischen Eroberung Algeriens und dem damit einhergehenden Machtgewinn Frankreichs in der Region. Die Kapelle wurde zum Sinnbild der Verschmelzung der französischen Herrschaftsansprüche mit der katholischen Mission in Nordafrika. In diese Tradition stellte Lavigerie auch die Tätigkeiten seiner Patres, die gegen den starken Einfluss der italienischen Kapuziner in Tunis wirken sollten. Dies geschah in enger Absprache mit dem französischen Generalkonsul, Théodore Roustan. Letzterer erkannte den Aufbau einer gallikanischen Kirche in Tunesien als eine wirksame Massnahme zur Ausdehnung des französischen Einflusses. Sein Ziel war es, die Sympathien der italienischen, maltesischen und französischen Katholiken in der Regentschaft für Frankreich zu gewinnen und auf diese Weise den Boden für ein französisches Protektorat in Tunesien zu ebnen. Bis zu dessen Errichtung 1881 konkurrierte Frankreich mit den Grossmächten Italien und Grossbritannien um die Vorherrschaft in Tunesien. Die Entsendung der Pères Blancs nach Tunesien begründete sich ferner auch im innerfranzösischen Laizisierungsprozess der Dritten Republik. Durch antiklerikale Massnahmen der republikanischen Regierungen, die auch die Tätigkeiten der katholischen Kirche in der algerischen Kolonie einschränkten, sah Lavigerie seine wohltätigen Werke in Algerien gefährdet. Die Verlagerung seiner Aktivitäten auf die Regentschaft von Tunis diente daher zur Sicherung der katholischen Errungenschaften in Nordafrika und zur Wahrung der Interessen der katholischen Kirche in der Region. Die vorliegende Masterarbeit beleuchtet das Zusammenspiel der Aussen-, Innen- und Kirchenpolitik im französischen Protektorat und fokussiert dabei insbesondere auf das Wechselspiel zwischen der Politik und dem Umgang mit der Vergangenheit durch die katholische Kirche in Tunesien. So wurden beispielsweise die mehrdimensionalen, historischen Referenzen, die der Standort der Saint-Louis-Kapelle in Karthago in sich vereinte, von Lavigerie und den Pères Blancs geschickt in Szene gesetzt. Sie stellten den Bezug her zur christlichen Spätantike, zu den mittelalterlichen Kreuzzügen und zum heiligen Ludwig sowie zu den christlichen Missionaren der frühen Neuzeit, um die katholische Kirche und das Protektorat in Tunesien mit einer „christlichen Tradition“ auszustatten. Ausgehend von den schriftlichen Zeugnissen Lavigeries und der Pères Blancs untersucht die Masterarbeit in einem ersten Teil, inwiefern es sich bei den erwähnten historischen Rückgriffen zwischen 1875 und 1892 um die Entfaltung einer „Erinnerungskultur“ gemäss der Theorie von Aleida und Jan Assmann handelte. Dabei lassen sich drei zeitliche Etappen beobachten, während denen sich die kirchliche Erinnerungskultur von einer ordensinternen (1881-1884) über eine kircheninterne (1881-1884) zu einer öffentlich ausgestalteten Erinnerungskultur mit ihren eigenen „lieux de mémoire“ (1884-1892) entwickelte. Dieser Prozess erfolgte parallel zur Errichtung und zur Konsolidierung des französischen Protektorates in Tunesien. Die kirchliche Erinnerungskultur legitimierte dabei die französische Expansion, Frankreich wiederum legitimierte durch seine Herrschaft die Tätigkeiten der katholischen Kirche in Tunesien. In einem zweiten Teil fokussiert die Arbeit auf die Bedeutung der kirchlichen Erinnerungskultur in Hinblick auf die nichtfranzösischen Europäer in Tunesien sowie auf das Verhältnis der verschiedenen Regierungen der Dritten Republik zur römischen Kurie. Hierbei wird ersichtlich, dass die kirchliche Erinnerungskultur im ersten Fall einen wichtigen Beitrag zur Sozialisation der nichtfranzösischen Katholiken innerhalb der Strukturen des Protektorats leistete. Im zweiten Fall trat Lavigerie als wichtiger Vermittler zwischen der Kurie und den französischen Regierungen der Dritten Republik auf. Abschliessend bietet die Masterarbeit einen Ausblick auf den 30. Internationalen Eucharistiekongress, der 1930 in Karthago stattfand und bei dem das erinnerungspolitische Programm der katholischen Kirche in Tunesien in triumphaler Weise inszeniert wurde.

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