Type de travail
Mémoire de master
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Julia
Richers
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2015/2016
Abstract
Nach der Besetzung Ungarns durch deutsche Truppen am 19. März 1944 begann die Zerstörung eines vermeintlich „sicheren Hafens“ der europäischen Jüdinnen und Juden. Innerhalb weniger Monate wurde fast eine halbe Million Menschen in die Vernichtungslager deportiert. Das Budapester Hilfsund Rettungskomitee „V aadat Ezra V eHazalah“, kurz Vaada, rund um Rezső (Rudolf) Kasztner setzte sich dafür ein, dass wenigstens ein Teil der Jüdinnen und Juden Ungarns gerettet werden konnte. Die V aada liess sich auf V erhandlungen mit den Nationalsozialisten ein, um so viele Menschen wie möglich vor dem Tod zu bewahren und ihnen unter Umständen die Ausreise in ein neutrales Land oder nach Palästina zu ermöglichen.
Im Juli 1944 wurden rund 1'700 Jüdinnen und Juden mit einem Zug aus Budapest evakuiert. Die von der Vaada ausgewählten Personen sollten einen Querschnitt des ungarischen Judentums darstellen. Rabbiner, Zionisten, Orthodoxe gehörten ebenso dazu wie Flüchtlinge aus Ungarns Nachbarländern. Für Kontroversen sorgten nach dem Krieg vor allem, dass auch eine grössere Gruppe aus Kasztners Heimatstadt Kolozsvár (Cluj) sowie Familienmitglieder der Organisatoren einen Teil des Transports bildeten. Nach einem Aufenthalt im Konzentrationslager Bergen-Belsen gelangten im August 1944 zunächst 388 Personen und im Dezember 1944 der Rest der Gruppe unverhofft in die Schweiz. Die Umstände der als „Kasztner- Transport“ in die Historiographie eingegangenen Rettungsaktion waren immer wieder Gegenstand historischer Forschung. Kaum Beachtung fanden bisher allerdings die Personendossiers der eingereisten Personen, die sich im Bundesarchiv (BAR) in Bern befinden und die Quellengrundlage der Masterarbeit liefern. Mithilfe des vor allem von Heiko Haumann für die Geschichtswissenschaft nutzbar gemachten lebensweltlichen Konzepts geht diese Arbeit der Frage nach, wer diese Menschen waren und wie sie ihre Zeit in der „Lebenswelt“ Schweiz erlebten. Anhand von ausgewählten Fallbeispielen widmet sie sich den Schicksalen verschiedener mit dem Kasztner-Transport eingereisten Personen. Neben den Personendossiers bildet vor allem der von Kasztner 1946 in Basel veröffentlichte Bericht über die Rettungsaktion die Grundlage für die Untersuchung.
Mit dem Kasztner-Transport wurden ungewöhnlich viele „ältere“ Personen, die 60 Jahre und älter waren, gerettet, weshalb ein Kapitel der Frage nachgeht, wer diese älteren Menschen waren und warum ausgerechnet sie gerettet wurden. An ihrem Beispiel zeigt sich, dass es drei Hauptkategorien zur Aufnahme in die Rettungsliste gab: Verdienste um das ungarische Judentum, Verwandtschaft zu anderen „wichtigen“ geretteten Personen und Rettung gegen Bezahlung. Einen wichtigen Teil der Arbeit macht auch die Untersuchung von „Prominenten“ und den V erwandten der Organisatoren und deren Schicksal aus. Kasztner wurde später oft vorgeworfen, nur diese gerettet zu haben. Besonders „privilegiert“ waren im Westen bekannte Persönlichkeiten wie der Psychologe Leopold Szondi. Seiner Bekanntheit wegen wurde er von Schweizern unterstützt, was dazu beitrug, dass er nach seiner Ankunft ziemlich schnell seinem angestammten Beruf nachgehen durfte, während andere Mitglieder der Gruppe, wenn überhaupt, fachfremd beschäftigt wurden. Es zeigt sich jedoch, das längst nicht nur Prominente und Verwandte gerettet wurden, und dass diese Gruppe nur einen kleinen Teil ausmachte.
Die Arbeit befasst sich ebenfalls mit den Möglichkeiten, die die Flüchtlinge der KasztnerGruppe nach ihrer Einreise in die Schweiz hinsichtlich ihrer Zukunft hatten. Ursprünglich war geplant, die ganze Gruppe nach Palästina weiterzubefördern, dies scheiterte letztlich u.a. am Widerstand vieler Flüchtlinge, die lieber in ihre Heimatländer zurückkehren oder ihre Zukunft anderswo aufbauen wollten. Letztlich fuhr deshalb nur gut die Hälfte der ursprünglichen Gruppe nach Palästina. Gewisse Personen schafften es, eine dauerhafte Niederlassungsbewilligung in der Schweiz zu erhalten. Dies waren vor allem Personen, denen eine Rückkehr aus Altersgründen nicht zugemutet werden konnte oder die den Aufforderungen der Beamten, das Land zu verlassen, nicht nachkamen.
In seinem Bericht über die Rettungsaktion erwähnte Kasztner zwölf Kategorien, anhand derer die Vaada ihre Auswahl getroffen habe. Da aber im Bundesarchiv Fälle von Personen vorhanden sind, die sich in keine der Kategorien einordnen lassen, widmet sich das letzte Kapitel der Arbeit zwei angeblichen US-amerikanischen Protestanten und einem psychisch traumatisierten Mann, bei denen auf den ersten Blick nicht ganz klar ist, wieso sie auf dem Transport waren. Der KasztnerTransport sollte einen Querschnitt des ungarischen Judentums darstellen und so stellt auch diese Arbeit letztlich einen Querschnitt durch die Dossiers im BAR dar.
Anders als in den meisten Forschungsarbeiten zum Kasztner-Transport stehen die betroffenen Akteurinnen und Akteure im Mittelpunkt und nicht die Rettungsaktion als solche. Der Aufenthalt dieser geretteten Personen in der Schweiz stehen im Vordergrund, sofern, und hier stösst die Arbeit an ihre Grenzen, sie sich durch die Akten rekonstruieren lassen.