Type de travail
Mémoire de master
Statut
laufend/en cours
Nom du professeur
Dr. habil.
Carmen
Scheide
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2019/2020
Abstract
Als 1873 die ersten Russ*innen für ein Studium an die Universität nach Bern kamen, legten sie den Grundstein für eine komplexe russische Gemeinschaft – die russische Kolonie in Bern. Der Begriff Kolonie basiert sowohl auf Eigen- als auch Fremdwahrnehmung und wurde auch für russische Gemeinschaften in Zürich, Genf oder London verwendet. Während es zu den russischen Kolonien in diesen Städten bereits Forschung gibt, stellt die russische Kolonie in Bern ein Forschungsdesiderat dar, weshalb die vielfältigen Entwicklungen der Kolonie im Zeitraum zwischen 1873 – 1905/06 im Zentrum dieser Arbeit stehen. Die mikrohistorische Untersuchung wird methodisch durch eine migrationsgeschichtliche Push- und Pull-Faktorenanalyse sowie eine statistische Auswertung ergänzt.
Zur Entschlüsselung der Sozialstruktur wird einerseits (auto-)biografisches Material verwendet. Andererseits werden die Aufenthaltsregister der Stadt Bern zwischen 1861 und 1904 auf Russ*innen untersucht, transkribiert und statistisch ausgewertet. Die erste Generation an Russ*innen in den 1870er und 1880er Jahren war mehrheitlich weiblich, jung (durchschnittlich 22 – 23 Jahre alt), adelig und gab an, an der Universität Bern zu studieren. Die Grösse der Kolonie konnte auf einige Dutzend geschätzt werden. Nach 1899 waren junge Student*innen immer noch in der Mehrheit, allerdings waren Russ*innen nun vermehrt jüdisch-stämmig und nicht mehr adelig. Von 1899 bis 1904 wuchs die Kolonie von circa 300 auf etwa 600 Personen an, womit sie weniger als ein Prozent der Berner Wohnbevölkerung ausmachte.
Das Wachstum der russischen Kolonie lässt sich nicht durch geringe Abgangszahlen erklären, die meisten Russ*innen waren nach spätestens drei Jahren weitergezogen. Vielmehr führten politische Verfolgung und immer eingeschränktere Bildungsmöglichkeiten in Russland (Push-Faktoren) dazu, dass Russ*innen ihr Heimatland verliessen, um Bildung und Sicherheit zu finden. Während die verhältnismässig grosse Sicherheit eher schweiz- als bernspezifisch war, erklärt dies nicht die Attraktivität Berns. Der grösste Pull-Faktor war die liberale Bildungspolitik Berns. Als eine der wenigen Universitäten Europas erlaubte Bern das Frauenstudium und erst 1901 wurde, als Anpassung an andere Schweizer Universitäten, auch bei Ausländer*innen ein gymnasialer Abschluss verlangt. Die Rektorats- und Senatsakten der Universität Bern zeigten, dass die Universität die Erweiterung ihrer Kapazitäten einer Beschränkung der Studierendenanzahl vorzog. Neben der Bildungsoase, welche die Universität darstellte, zog die Kolonie selbst auch Personen nach Bern, indem ein Wanderungs- und Informationssystem zwischen Bern und Russland entstand, welches das bereits bestehende Wachstum verstärkte.
Durch ihre Anzahl und die relativ liberale Haltung der Behörden hatte die russische Kolonie diverse Möglichkeiten, sich zu betätigen. Davon zeugen sowohl Egodokumente von Russ*innen als auch Senatsakten der Universität und der Bundesanwaltschaft. Auch hier war die Universität Bern ein zentraler Ort. Sie bot den Russ*innen die Möglichkeit zu persönlicher Entfaltung, wissenschaftlicher Erkenntnis aber auch Konfliktpotenzial zwischen Studierenden. Politische Agitationen fanden sowohl in kleinem, privatem Rahmen als auch in Form von Grossveranstaltungen statt. Innerhalb der russischen Kolonie war das gesamte Spektrum der russischen Parteienlandschaft vertreten, wobei durch den hohen Anteil an Jüd*innen nach 1900 vor allem der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund und zionistische Gruppierungen um Mitglieder und Ressourcen konkurrierten.
Ob ein gutes Verhältnis zwischen Teilen der russischen Kolonie und Teilen der lokalen Bevölkerung zustande kam, hing von gemeinsamen Wertevorstellungen ab. Vor allem zu bürgerlich-konservativen Kräften waren Beziehungen praktisch nicht vorhanden. Dagegen zogen die Sozialdemokratie Berns sowie die Berner Arbeiterschaft zumindest Teile der russischen Kolonie an. Davon zeugen Berichte der Berner Fremdenpolizei sowie der Bundesanwaltschaft beispielsweise über die 1. Maifeiern oder Sympathieaktionen bezüglich der Russischen Revolution 1905. Die Beziehung zwischen der russischen Kolonie und den kantonalen und nationalen Behörden war von Misstrauen und Sorge geprägt. Aus Angst ihr Aufenthaltsrecht zu verlieren, versuchten Russ*innen möglichst vorsichtig zu sein und keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aus Behördensicht waren generell alle Russ*innen bis zu einem gewissen Grad verdächtig, davon zeugte alleine die Sammlung von Dossiers unter Bezeichnungen wie Russen in der Schweiz. Von Ausweisungen oder gar Auslieferungen wurde jedoch zumeist abgesehen. Ausnahmen bildeten Grenzüberschreitungen, unter die beispielsweise Attentatsversuche oder die Anstachelung der Berner Arbeiterschaft fielen.