Vortrag von Prof. Dr. Rainer J. Schweizer, Uni St. Gallen
Im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts werden die frühen Verfassungen und verfassungsrelevanten Beschlüsse der Schweizer Kantone und des Bundes erforscht und kommentiert herausgegeben. Graubünden hat eine besonders reiche Verfassungstradition seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Bündner Verfassungsgebung war wesentlich durch die demokratischen Traditionenund den föderalistischen, bündischen Staatsaufbau bestimmt. Zugleich erfuhr die Verfassungsordnung aber durch die europäischen Kriege zwischen 1797 und 1815 vielfältige und schwere Eingriffe.
Die Erforschung des Bündner Verfassungsrechts beginnt (1.) bei den Reformversuchen von 1767 und erfasst dann (2.) die eindrückliche grosse Reform von 1794/95, in welcher einerseits die Hauptgrundsätze der bisherigen Staatsordnung überprüft und andererseits ein grosses Bündel an Neuerungen beschlossen wurden. Ein besonderes Augenmerk verdienen (3.) die Verfassungsordnung in Bormio, Valtellina und Chiavenna sowie die Reformbegehren aus diesen Gebieten. Doch schon 1797 setzt (4.) eine schwere Kriegs-, Besatzungs- und Umbruchszeit sein, welche (5.) im Jahr 1803 in die oktroyierte Neuordnung der napoleonischen Mediation mündete. Erst 1814 konnte das Land (6.) wieder eine
eigenständige Verfassung beschliessen, die allerdings den europäischen Mächten zur Kontrolle vorgelegt wurde. Damit verband sich (7.) bekanntlich im Rahmen der Verhandlungen des Wiener Kongresses die definitive Festlegung des Staatsgebiets, welche die Aufgabe des österreichischen Herrschaftsgebiets am Rhein und den Verlust der drei südlichen Landesteile bedeutete. 1820 wurde die Verfassungsordnung von 1814 weitgehend bestätigt. Wichtige Reformschritte wurden (8.) erst wieder, auf Initiativen des 1842 gegründeten Reformvereins, 1848 und 1850 wieder unternommen, woraus die Kantonsverfassung vom 1. Februar 1854 erwuchs. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts konzentrierten sich (9.) die Verfassungsbemühungen namentlich um die Stärkung der Volksrechte. Mit der Verfassung vom 2. Oktober 1892 fand die Staatsordnung von Graubünden ihre weitgehend noch heute massgebliche Grundlage.
Die Edition der Verfassungsentwürfe und -beschlüsse und der sonstigen verfassungsrelevanten Akte profitiert unzweifelhaft von den eindrücklichen historischen Forschungen in Graubünden in den letzten 150 Jahren. Sie führt allerdings auch zu teilweise neuen Einsichten, namentlich im schweizerischen und europäischen Vergleich bezüglich der Eigenständigkeit der Verfassungsdiskussion. Die Verfassungsdokumente von Graubünden seit 1767 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sind Zeugnisse von überaus vielfältigen und engagierten politischen Diskursen. Dabei wurde die Verfassungsgebung immer wieder von vielen spezifischen regionalen Anliegen und von bedeutenden privaten Vorschlägen inspiriert. Dazu kamen, auch ungewollt, gewisse staatspolitische Einwirkungen benachbarter europäischer Staaten. Besonders hervorzuheben ist, dass für die Verfassungsgebungen im Freistaat und im späteren Kanton die in aller Regel dreisprachige Textarbeit einen grossen Gewinn an Präzision und Verständlichkeit darstellte. Diese Verfassungsgeschichte ist ein eindrücklicher Teil der Bündner Kulturgeschichte.
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