War die deutsche Ordnungspolizei bereits während der 1930er Jahre und im Besonderen nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten als Truppe auch für den Kriegseinsatz – nicht nur hinter den Wehrmachtseinheiten, sondern auch an der Front – geplant? Wie sah dann der tatsächliche Einsatz während des Krieges aus und können Verschiebungen in der Auftragslage beobachtet werden?
Bisher wurde der Einsatz der deutschen Polizeieinheiten in der Sowjetunion vor allem im Zusammenhang mit Massenerschiessungen der dortigen jüdischen Gemeinden und auf das Jahr 1941 und Frühjahr 1942 beschränkt betrachtet. Dabei ging zum Beispiel das Polizeibataillon 322 bereits im August 1941 gezielt militärisch gegen Partisanengruppen vor. In Studien zum Einsatz der deutschen Einheiten in Jugoslawien von 1941 bis 1944 wurden bisher vor allem Geiselerschiessungen betrachtet, weniger die militärische Bekämpfung speziell infanteristisch ausgebildeter und dementsprechend ausgerüsteter gegnerischer Truppen durch Ordnungspolizisten.
Die Dissertation von Philippe Müller versteht sich als Beitrag zur Nachvollziehung der theoretischen Einsatzplanung der Ordnungspolizei vor und während des Krieges – unter Berücksichtigung der Ausbildungsrichtlinien – und des praktischen Einsatzes von Polizeibataillonen. Der tatsächliche EinsatzwirdanhanddesPolizeibataillons322–des späteren III. Bataillons des Polizeiregiments Mitte und noch späteren II. Bataillons des SS-Polizeiregiments 5 – nachgezeichnet. Das Polizeibataillon 322 wurde für die Untersuchung gewählt, weil es sich die Quellenlage betreffend besonders gut für das zu untersuchende Thema eignet. Der Verband stand erstens von 1941 bis 1944, zwar in sich ändernder personeller Zusammensetzung, aber grundsätzlich durchgehend, im Einsatz. Zweitens kämpften die Polizisten dieses Bataillons in Polen, in der Sowjetunion und in Jugoslawien; die Verschiedenartigkeiten der Einsatzgebiete und der Anforderungen sind also nachvollziehbar. Drittens ist die Quellenlage für das Polizeibataillon 322 ausgesprochen gut; von der Aufstellung bis zur Au ösung sind mit ein paar Lücken die Kriegstagebücher des Bataillons wie auch der Kompanien erhalten geblieben.
Zwei gewichtige Tendenzen sind bei der Strukturierung der Polizei schon kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten feststellbar: der Versuch der „Verreichlichung“ der Polizei und die Militarisierung. Die Vereinheitlichung der Polizei beginnt bereits mit der Aufhebung der Länderhoheit in den Jahren 1933 und 1934 und erreicht ihren Zenit mit Himmlers Ernennung zum Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei im Juni 1936. Die Militarisierung der Polizei hinsichtlich ihrer Organisationsstruktur ndet einen vorläu gen Höhepunkt mit der Überführung der Landespolizeieinheiten in die Wehrmacht im Juli 1935. Die Ernennung Kurt Dalueges zum Chef der Ordnungspolizei am 17. Juni 1936 und die Bildung des Hauptamtes Ordnungspolizei schliessen dann die Zusammenführung aller uniformierten Polizeieinheiten ab.
Die Ordnungspolizei übernahm vor dem Krieg klassische polizeiliche Aufgaben. Ihr oblag es, unmittelbar für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Die Schutzpolizei war für die Sicherheit in den Städten, die Gendarmerie für die Sicherheit auf dem Land zuständig. Im Speziellen überwachten Verkehrsgendarmerie-Abteilungen den Verkehr auf Autobahnen und Schnellstrassen. Auf dem Land bekämpfte die Ordnungspolizei auch die Wilderei. Daneben übernahmen Schutzpolizisten bereits vor dem Krieg die Organisation und Begleitung von Gefangenentransporten und die Verstärkung der Wachmannschaften der Konzentrationslager.
Im Herbst 1939, während des Feldzuges gegen Polen, erfolgte der Einsatz von Polizeibataillonen bereits auch an der Seite der Wehrmacht im rückwärtigen Armeegebiet gegen polnische reguläre Truppen. Dies geschah aber nach wie vor an zweiter Stelle nach den klassischen polizeilichen Massnahmen und Sicherungsaufgaben.
Der Einsatz der Polizeiformationen und speziell des Polizeibataillons 322 in den besetzten sowjetischen Gebieten während der Jahre 1941 und 1942 zeigt die Verschiebung der Aufträge und Einsätze am besten. Noch bis Mitte 1941 nahmen die Polizeibataillone während ihres Einsatzes in der Sowjetunion verschiedenste polizeiliche Sicherungs- und daneben auch Exekutionsauf
gaben wahr. Eine Verschiebung hin zum Einsatz gegen Partisanen kann dann ab August 1941 beobachtet werden. Die erste Hälfte des August 1941 markiert somit einen Ausgangspunkt, von dem an sich die Männer dieses Polizeibataillons faktisch von Polizisten zu Soldaten wandelten. Diese Wandlung ist zwei Monate später sehr weit fortgeschritten. Die Ordnungspolizisten des Polizeibataillons stehen ab Oktober 1941 zu grösseren Teilen im Kampf gegen Partisanen. Die Bekämpfung von Widerstandsgruppen nimmt während des Winters aus nachvollziehbaren Gründen stark ab. Ein erneuter Anstieg der Partisanentätigkeiten kann danach ab März bis April 1942 beobachtet werden. Ein Höhepunkt lässt sich Mitte April ausmachen. Bis zu diesem Zeitpunkt verlagerte sich das Vorgehen der Ordnungspolizisten weg von der Aufklärungsarbeit hin zu offenen Kampfhandlungen.
Ab Juli 1942 war das Polizeibataillon 322 nachweislich im Raum um Celje (Cilli) in der Untersteiermark, dem damaligen deutsch besetzten slowenischen Gebiet unter Zivilverwaltung, stationiert. In der Zeit von September bis Oktober 1942 unterstützte eine gesamte Kompanie des Polizeibataillons die Wehrmacht mit Begleit- und Einsatzkommandos. Wie im Jahr zuvor nahmen die Einsätze gegen Partisanen im Winter ab, um im Frühjahr 1943 wieder zuzunehmen. Ab Beginn 1943 bis zum Abbruch der Berichterstattung des Polizeibataillons 322 im Sommer 1944 wurden die Ordnungspolizisten nunmehr fast ausschliesslich infanteristisch gegen Partisanen eingesetzt. Ab April 1943 kam das Polizeibataillon zum Teil sogar geschlossen für militärische Unternehmen gegen Widerstandsgruppen zum Einsatz.
In den Ausbildungsrichtlinien ist diese Wandlung vom Polizisten zum Polizeisoldaten ebenso nachvollziehbar. Allerdings muss eher von einer Reaktion der Schulungsunterlagen und Reglemente auf die Situation in den Einsatzgebieten gesprochen werden. Eine Zäsur zeigt sich zwischen November 1941 und März 1942, leicht nachgelagert zu den tatsächlichen Einsätzen. Aufgrund der Erfahrungen aus den ersten drei Kriegsjahren, insbesondere aufgrund des Zusammenwirkens der Ordnungspolizisten mit Einheiten der Wehrmacht an der Front und gegen Partisanen, wurde nun auch von den Behörden im Reich und den höheren nationalsozialistischen Funktionären der Einsatz der Ordnungspolizei im militärischen Sinn vorgesehen. Die Ausbildungsrichtlinien lenkten den Fokus vermehrt auf eine infanteristische Gefechtsausbildung, wie zum Beispiel den Kampf im Wald oder die Bekämpfung von gepanzerten Fahrzeugen sowie das Gefecht mit Partisanen in Ortschaften oder im Feld.
Die Ordnungspolizei – und dies spiegelt sich auch im Einsatz des Polizeibataillons 322 – übernahm somit im Verlauf des Krieges viele Aufgaben und vor allem auch solche, die nicht den ordnungspolizeilichen Aufgaben vor dem Krieg entsprachen, sondern klar militärischer Natur waren. Die Verschiebung der Aufgaben nahm von Herbst 1941 bis Mitte 1942 ihren Lauf und wurde mit der Polizeidienstverordnung 41 im Jahr 1943 zu einem rechtlichen Abschluss gebracht. Die Ordnungspolizisten wurden also schlussendlich vollumfänglich militärisch eingesetzt und müssen somit auch nach militärischen Massstäben als Soldaten angesehen werden