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Conference
Covid-19 hat die existentielle Bedeutung von Fürsorglichkeit und spontaner Nachbarschaftshilfe schlagartig vor Augen geführt. Freiwilligkeit ist erneut in aller Munde. Während Politik und Öffentlichkeit sie einmal mehr loben, wertschätzen und umwerben, versuchen sich die Sozialwissenschaften bereits seit einigen Jahren an der Kategorienbildung. In der historischen Forschung ist Freiwilligenarbeit hingegen noch kaum als eigenständige Arbeitsform anerkannt. Allgemein ist Freiwilligkeit nicht als geschichtswissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand etabliert, während theoretische Reflexionen zum Thema weitgehend fehlen. Hier setzt die Tagung an, indem sie Freiwilligkeit ins Zentrum der zeithistorischen Analyse rückt.
Ausgangspunkt der Tagung bildet die strukturelle Verzahnung der Organisation von Freiwilligkeit mit Geschlechterarrangements seit den 1970er-Jahren. Die Frage nach der Wechselwirkung von Freiwilligkeit und Geschlechterordnung steht auch im Zentrum eines vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Forschungsprojekts, das seit Mitte 2021 an der Universität Fribourg läuft. Unser Forschungsinteresse gilt einer Epoche, die im Zeichen des neoliberalen Umbaus von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft steht. In den letzten fünfzig Jahren haben die Prinzipien des Wettbewerbs und des individuellen Erfolgs immer weitere Lebensbereiche erfasst und durchdrungen. Gleichzeitig durchlief die Geschlechterordnung mit der Zunahme der Frauenerwerbsarbeit und der rechtlichen Gleichstellung grundlegende Transformationen, während die neue Frauenbewegung als Kraft der gesellschaftlichen Veränderung die herkömmliche Arbeitsteilung und damit auch den Arbeitsbegriff grundlegend in Frage stellte.
Die Tagung fragt danach, wie sich diese tiefgreifenden Umbrüche in der Freiwilligkeit manifestierten. Wie haben sich die Organisation und die Praktiken der Freiwilligkeit verändert und wie haben umgekehrt Freiwillige mit ihrem Engagement den sozialen Wandel geprägt – abgefedert, beschleunigt oder ihm entgegengewirkt? Wie haben Freiwillige ihre eigenen Tätigkeiten gedeutet und welche gesellschaftlichen Bedeutungen schrieben Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit der Freiwilligenarbeit zu? Wie korrespondierten freiwillige Praktiken und Diskurse über Freiwilligkeit miteinander?
Ziel der Tagung ist es, Freiwilligkeit als eigenständige historische Analysekategorie zu etablieren. Damit verbunden sind methodische Fragen rund um die Definition von Freiwilligkeit, ihre Abgrenzung zu anderen sozialen Praktiken und ihr Verhältnis zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung generell.
Programm
9.00h: Begrüssung und Einführung
9.15-10.45h: Politiken der Freiwilligkeit
Pia Herzan (Erfurt): Freiwilligkeit und Geschlecht während der Gelbfieber-Epidemie der 1790er Jahre in Philadelphia
Silke van Dyk (Jena): Umsonst und freiwillig? Zur Informalisierung von Arbeit im Community-Kapitalismus
Pause
11.15-12.45h: Freiwilligkeit in sozialen Bewegungen und im alternativen Milieu
Sarah Probst (Fribourg): Quellen der Freiwilligkeit. Methodische Überlegungen zur Erforschung des feministischen Milieus in Solothurn in den 1970er Jahren
Jonathan Pärli (Basel): Brennende Hemden oder der Horror der Sozialarbeit: Asylaktivismus und die Frage der Politik
Mittagessen
13.30-15.45h: Freiwilligkeit, Markt und Familien
Nicole Kramer (Köln): Mittendrin und dazwischen: Pflegende zwischen Gemeinnützigkeit und Ökonomisierung, 1970er-2000er Jahre
Carola Togni (Lausanne): Les frontières du travail bénévole sous le regard du care. L’exemple des centres de loisirs lausannois (1970-2020)
Brigitte Semanek (St. Pölten/Wien): Konzepte von Freiwilligkeit in Entscheidungsprozessen bei der familiären Altenbetreuung
Pause
16.00-17.45h: Wissen und Sprachen der Freiwilligkeit
Céline Angehrn (Basel): Die Logik der Checkliste: Anleitung zur feministischen Reflexionsarbeit um 1990
Sybille Marti (Bern): Informelle Arbeit, Self Service-Economy und Geschlecht. Debatten über die Zukunft der Arbeit in den 1980er Jahren
Abendessen
Organisiert von
Regula Ludi, Sarah Probst und Matthias Ruoss
Veranstaltungsort
Universität Fribourg, MIS 11 2.102 (salle Laure Dupraz)
Rue de l'Hôpital 4
1700
Fribourg
Sprachen der Veranstaltung
German
Zusätzliche Informationen
Anhang
Kosten
CHF 0.00
Anmeldung
personal
Anmeldeschluss
