Die Steglitzer Schülermordtragödie und die Moderne. Ein Sensationsprozess in der Weimarer Republik

AutorIn Name
Sonja
Latscha
Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Marina
Cattaruzza
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2011/2012
Abstract
Am 28. Juni 1927 erschoss der 19-jährige Günther Scheller den Bekannten seiner Schwester Hilde, Hans Stephan, in der elterlichen Wohnung in Berlin Steglitz, und anschliessend sich selbst. Der ebenfalls anwesende Paul Krantz, mit dem Günther in der Nacht zuvor einen doppelten Mord und Selbstmord verabredet hatte, wurde verhaftet. Er war nach Meinung der Staatsanwaltschaft der Urheber des Mordplanes und wurde des gemeinschaftlichen Mordes angeklagt. Aufgrund der Tatumstände, des Milieus des Wohlstandes, in dem sich die Tat abspielte, und aufgrund der Mischung aus Kapitalverbrechen und Jugendsexualität, erregte der Fall von Anfang an eine enorme öffentliche Aufmerksamkeit. Der Prozess gegen Krantz wurde zu einem der grössten Sensationsprozesse der Weimarer Republik. Die eigentliche Sensation lag jedoch weniger in dem Verbrechen, als in der Entdeckung einer zweiten Jugendkultur, einer „neusachlichen“ Jugend als Nachfolgerin der Jugendbewegung in Deutschland. Die Schülermordtragödie wurde vielfach als typische Zeiterscheinung betrachtet, als eine Verkörperung von Frank Wedekinds Stück Frühlings Erwachen. Die Studie geht der Frage nach, wie es zu einer solchen Deutung kommen konnte und wie die Verteidigung es schaffte, einen Freispruch für Krantz zu erreichen. Besonders wichtige Kategorien sind dabei Jugend und Gender in der Weimarer Republik. Anhand dieser beiden The-menschwerpunkte wird die Vermischung eines strafrechtlichen und eines moralischen Diskurses sowie die Art und Weise, wie der eine auf den anderen bezogen wurde, dargelegt. Foucault schreibt in Überwachen und Strafen, dass nicht nur die Verbrechen vor Gericht verurteilt werden, sondern auch die „Schatten hinter den Tatsachen“. Die „Tatsachen“ waren im Krantzprozess völlig unzureichend. Paul konnte keinerlei physische Handlung nachgewiesen werden, die zu dem Mord und Selbstmord geführt hatte. Als Verbrechen werden laut Foucault Rechtsgegenstände beurteilt, die vom Gesetzbuch definiert sind, aber gleichzeitig auch Leidenschaften, Anomalien und Unange-passtheiten. Um eine Verbindung zwischen diesen „Schatten“ und dem Strafrecht herzustellen, waren im Krantzprozess psychologische Gutachten von grosser Bedeutung. Sie stellten mit dem Bezug auf Wissenschaftlichkeit und Objektivität die Schnittstelle zwischen dem rechtlichen und dem moralischen Diskurs dar. Pauls Verteidigung stützte ihre Argumentation dabei ebenso wie die Staatsanwaltschaft auf die Gutachten und die moralischen Vorstellungen, die mit ihnen verknüpft waren. Im ersten Kapitel des Darstellungsteils wird auf die Kultur der Weimarer Republik und besonders auf die Jugend und die Geschlechterverhältnisse eingegangen. Anschliessend wird die Steglitzer Schülermordtragödie vorgestellt. Anhand der Vernehmungsprotokolle von Paul und Hilde sowie von weiteren Beteiligten werden die Geschehnisse vom 26.-28. Juni 1927 und die Konstruktion der Anklageschrift aufgezeigt und dargelegt, wie die verschiedenen Punkte von der Verteidigung widerlegt wurden. In einem dritten Teil wird dieser spezifische Fall wiederum mit den allgemeineren kulturellen Entwicklungen zusammengeführt. Das Ineinandergreifen von mikround makrohistorischer Perspektive zeigt auf, wie die zeitgenössischen sozialen Kategorien das Verhalten der Individuen beeinflussten und auf welche Weise der Fall auf diese Kategorien zurückwirkte. Anhand des Falles wurde eine Grenze für das Vordringen der sexuellen Freizügigkeit, die sich in der Weimarer Republik überaus schnell entwickelt hatte, festgelegt. Dies wurde besonders im Umgang des Gerichts und der Presse mit der Zeugin Hildegard Scheller deutlich. In ihr verbanden sich die Ängste über die Auswirkungen der Moderne auf die Jugend und auf die Frauen. Verhaltensweisen, die in Bezug auf die Neue Frau oder auf die proletarische Jugend nicht akzeptierbar, aber zumindest diskutierbar waren, wurden für die bürgerliche (insbesondere weibliche) Jugend einhellig abgelehnt. Mit Peter Burke kann gesagt werden, dass es sich bei der Diskussion über die Ereignisse um einen „performativen Akt“ handelte. Es geht also um Äusserungen, die eine Situation nicht nur beschreiben, sondern erst herstellen. Die zeitgenössische Wahrnehmung, die der Schülertragödie eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zuschrieb, erweist sich auch im Nachhinein als angemessen. Die Steglitzer Schülermordtragödie wurde von vielen Kommentatoren dazu benutzt, um über die Moderne und ihre Auswirkungen zu schimpfen und dem „Unbehagen an der Moderne“ Luft zu machen. Im „Theaterstück Krantz-Prozess“ wurden sowohl der Generationenkonflikt thematisiert als auch moralische Normen neu bestimmt. Diese Gegenstände betrafen potentiell jeden, was eine Erklärung für das enorme Interesse an dem Fall darstellt.

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