Im Jahre 1899 wird an der Universität Zürich der erst dritte Lehrstuhl für Anthropologie im deutschsprachigen Raum gegründet. Der in Zürich geborene Deutsche Rudolf Martin, der seit 1890 an der Universität Zürich forschte, wurde als ausserordentlicher Professor erster Lehrstuhlinhaber und 1905 zum ordentlichen Professor befördert. Krankheitsbedingt musste Martin 1911 vom Lehrstuhl abtreten und hinterliess eine anthropologische Abteilung, die der Universität Zürich einen erstklassigen Ruf in ganz Europa einbrachte.
Die Anthropologie war zu Beginn des Untersuchungszeitraums, der ungefähr von den Lebensdaten Martins bestimmt wurde (1864-1925), noch keine eigenständige Wissenschaft und daher erst dabei sich als eine universitäre Disziplin zu institutionalisieren. Die Entwicklungsschritte der Anthropologie von einer vernachlässigbaren "Gruppenwissenschaft" zu einer Wissenschaft mit akademischer, politischer und gesellschaftlicher Anerkennung bis hin zur führenden Grundlagenwissenschaft für viele weitere Disziplinen, konnten herausgearbeitet werden. Die Untersuchung von Martin und seinem Werk wurde entlang dieser Entwicklungsschritte durchgeführt. Diese Vorgehensweise hat sich bewährt, da die Entwicklung der Anthropologie und Martins Auffassung, was Anthropologie ist und wie sie verändert werden muss, sich in den Jahren von 1890 bis ca. 1907 deckten. Dies nicht zuletzt aufgrund der zentralen und führenden Position, die Martin im anthropologischen Diskurs einnahm.
Durch die chronologisch angelegte Untersuchung wurde es einerseits möglich, eine „(Lebens-)Geschichte“ über Martin zu erzählen und andererseits konnte seine Abwendung von der „rasseaxiomatischen“ Anthropologie historisch präzise bestimmt werden: Denn zwischen seinem Aufsatz aus dem Jahre 1907 über die „Systematik“ der Anthropologie und der „Systematik“ aus seinem Lehrbuch aus dem Jahre 1914 bestehen substanzielle Unterschiede. Martins Gedanken formierten sich in diesem Zeitraum immer stärker um die anthropologischen Methoden, die eine exakte Beschreibung des Menschen und somit auch eine Vergleichbarkeit ermöglichten. Er distanzierte sich resp. strich gleichzeitig die „Anthropographie“ aus seiner Systematik heraus. Die Anthropographie soll „eine synthetische Behandlung […], d.h. eine Zusammenfassung der für eine einzelne menschliche Gruppe charakteristischen Merkmale, also eine eigentliche „Rassenbeschreibung“ [sein]“. Das rein deskriptive Moment steht im Vordergrund. Dies entspräche dem gegenwärtigen Stand der anthropologischen Forschung, denn „voreilige Theorien bringen uns […] nicht vorwärts.“
Es war nicht der gegenwärtige Stand der Forschung, sondern viel mehr Martins Auffassung davon, wie die Anthropologie sich entwickeln sollte und gleichzeitig eine dezidierte Absage an das Rasseaxiom, welches verschiedene Auffassungen verschmolz und zur treibenden Kraft des Siegeszugs der Anthropologie wurde. Das Rasseaxiom verband die kantische Vorstellung einer teleologischen Menschheitsgeschichte mit dem im Grunde ziellosen Evolutionismus, verschweisste die historische mit der natürlichen Entwicklung der Völker, inkorporierte die Vererbungslehre in die Anthropologie und gab den bevölkerungspolitischen Ordnungsvorstellungen nationalistisch gesinnter Wissenschaftler somit die Realisierungsmöglichkeiten.
Spätestens nach der Veröffentlichung der "Rehobother Bastardstudien" von Eugen Fischer bestimmte das Rasseaxiom die anthropologische "Wissensproduktion" vollständig. Martins Antwort darauf waren die präzisen anthropologischen Methoden. Er trug keine offenen Konflikte mit Vertretern der rasseaxiomatischen Anthropologie aus, doch indem er die Aussagemöglichkeiten der Anthropologie mit seiner methodischen Präzision beschnitt, distanzierte er sich dezidiert von ihnen.
Martins Credo war bis zuletzt: Vorsicht vor Verallgemeinerungen! Und doch waren es genau seine „unwiderlegbaren“ zahlenbasierten Resultate, die dem rasseaxiomatischen Diskurs die wissenschaftliche Legitimation brachten. Martins Methoden und Zahlen wurden so zum Fundament der vielen rassistisch-nationalistischen Vorstellungen dieser Zeit.