Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Stig
Förster
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2012/2013
Abstract
Heinz Reinefarth war der einzige SS-General des Dritten Reiches, der nach 1945 auf Länderebene ein politisches Amt innehielt. Der Jurist, geboren 1903 in Gnesen in der damaligen preussischen Provinz Posen, machte innerhalb des nationalsozialistischen Besatzungsapparates eine steile Karriere: Gefördert durch seinen Mentor Kurt Daluege, Chef der deutschen Ordnungspolizei und Nachfolger von Reinhard Heydrich als Stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, wurde Reinefarth 1942 zum Oberaufseher über die Protektoratsverwaltung ernannt und avancierte Anfang 1944 zum Höheren SSund Polizeiführer im sogenannten „Reichsgau Wartheland“. Das formell dem Deutschen Reich eingegliederte Gebiet im heutigen Polen war ein zentraler Schauplatz der brutalen nationalsozialistischen Vertreibungs-, Vernichtungs- und Germanisierungspolitik. Im August 1944 war Reinefarth als Kampfgruppenkommandant massgeblich verantwortlich für die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes. Im Rahmen militärischen Vorgehens setzte er einen Befehl des Reichsführers SS Heinrich Himmler, nach welchem sämtliche nichtdeutschen Einwohner Warschaus unterschiedslos umzubringen waren, in die Tat um. Als direkte Konsequenz kamen insbesondere im Stadtteil Wola mehrere zehntausend polnische Zivilisten ausserhalb der eigentlichen Kampfhandlungen ums Leben. Das „Massaker von Wola“ stellte eines der grössten deutschen Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges dar und gleichzeitig einen Angelpunkt der lange Zeit gespaltenen polnischen Erinnerungskultur in Bezug auf den gewaltsamen Widerstand gegen die deutsche Besatzung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entging Reinefarth durch seine Verbindungen zu amerikanischen Geheimdienstkreisen einer Auslieferung an den Ort seiner Verbrechen und wurde in der Folge ohne grössere Umstände entnazifiziert. Bald darauf wurde er als Mitglied der Vertriebenenpartei BHE (Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten) zum Bürgermeister von Westerland und 1958 sogar in den schleswigholsteinischen Landtag gewählt. Nun jedoch kam um ihn, wesentlich angestossen durch eine massive DDR-Propagandakampagne und später durch den Lüneburger Historiker Hanns von Krannhals, eine publizistische Debatte ins Rollen, die ihn als Amtsträger mittelfristig untragbar machte. Parallel dazu bildete seine Person den Anlass für den Beginn der äusserst aufwändig betriebenen juristischen Aufarbeitung des Warschauer Aufstandes. Hier zeigten sich die Grenzen der gesellschaftlichen Vergangenheitsbewältigungsbestrebungen der 1960er-Jahre: War die Figur Reinefarth öffentlich zwar nicht mehr konsensfähig, reichten andererseits strafrechtlich relevante Vergehen in Zusammenhang mit Militärereignissen im Unterschied zu als „typisch nationalsozialistisch“ angesehenen Verbrechen, primär KZ-Tatkomplexen, in aller Regel nicht aus, um auch juristischen Sanktionen in Form von rechtskräftigen Verurteilungen nach sich zu ziehen. So kam es, dass Reinefarth nach jahrelangen Ermittlungen trotz erdrückender Beweislast ausser Verfolgung gesetzt wurde und – mittlerweile weitgehend in Vergessenheit geraten – 1979 auf Sylt starb.
Die Dissertation versteht sich als Beitrag zur NS-Täterforschung, vor allem aber zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Der biografische Ansatz der Studie ist hierbei Mittel zum Zweck. So ist ihr Thema weniger der eigentliche Lebenslauf des Protagonisten als vielmehr die exemplarische Betrachtung der Entwicklung des öffentlichen und juristischen Umgangs mit der Vergangenheit von NS-Diktatur und V ernichtungskrieg. Der Fall Reinefarth eignet sich insbesondere deshalb als Anschauungsgegenstand, weil er symbolisch in mehrfacher Hinsicht aufgeladen war: Einzigartig für die Bonner Nachkriegsrepublik, verband sich in der Person des schleswig-holsteinischen Politikers eine ehemals hohe Position in der SS – als Institution das Synonym schlechthin für die Unmenschlichkeit des NS-Systems – mit der Wahl zum Volksvertreter in ein Landesparlament. Dazu kam die direkte und massgebliche Mitverantwortlichkeit für ein ereignisgeschichtlich klar fassbares, unbestreitbares Massenverbrechen von erheblichem Gewicht, als historisches Geschehnis an sich und als prägnantes Erinnerungsobjekt im Rahmen der überaus problematischen polnisch-bundesdeutschen Beziehungen der Nachkriegszeit.
Die Arbeit liefert ferner Erkenntnisse über die Möglichkeiten und Grenzen der Geschichtswissenschaft zur Beeinflussung der kollektiven Erinnerung an NS-Kriegsverbrechen. Blieb der öffentliche Diskurs über die Niederschlagung des Aufstandes bis Ende der 1950er-Jahre in apologetischen und relativierenden Argumentationsmustern verhaftet, zeigt der durch Hanns von Krannhals verkörperte Erkenntnisfortschritt bezüglich des Warschauer Ereignisses exemplarisch, wie dieser für einen massgeblichen Kriegsverbrecher zunächst öffentliche (nachhaltige Skandalisierung), realpolitische (Rücktritt) und schliesslich existentielle Konsequenzen (Infragestellung der juristischen und persönlichen Integrität) zeitigte. Mit dem Verfahren gegen Reinefarth wurde Krannhals als beigezogener, aber unverkennbar parteiischer Sachverständiger zum geschichtspolitischen Akteur. Obwohl er gegenüber den Deutungen der Juristen und der als relevant betrachteten Zeugen unterlag, bescherte die von ihm entscheidend ausgelöste und geprägte Untersuchung dem Verbrechen eine gesteigerte öffentliche Präsenz, was mittelfristig eine veränderte Wahrnehmung und Bewertung zur Folge hatte. Das Reinefarth-Verfahren führte also von der wissenschaftlichen über die juristische hin zu ersten Schritten öffentlicher Aufarbeitung eines herausragenden Einzelbeispiels der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in den besetzten Ostgebieten. lagernd im Landesarchiv Schleswig-Holstein. Diese geben nicht nur Aufschluss über das bereits damals vergangene Geschehen rund um Reinefarths Wirken im Dritten Reich, sondern sind dank der zahlreichen Kommentare und Vermerke der Justizbeamten sowie der ebenfalls überlieferten Korrespondenzen mit juristischen, politischen, behördlichen und wissenschaftlichen Akteuren selber Zeitdokumente. Die öffentliche Debatte um Reinefarth konnte in erster Linie über die Berichterstattung und Kommentare in der gedruckten Presse nachverfolgt werden.
Die Arbeit wurde während ihrer Entstehung vom Institut für schleswig-holsteinische Zeit-und Regionalgeschichte der Universität Flensburg begleitet. Erste Ergebnisse wurden in Aufsatzform im Jahrbuch Demokratische Geschichte (22/2011) publiziert. Im Frühjahr 2014 erschien die Dissertation in geringfügig überarbeiteter Form als Auftaktband der neuen Institutsreihe Beiträge zur Zeit- und Regionalgeschichte im Wachholtz Verlag in Neumünster.