Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Windler
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2015/2016
Abstract
Im Rahmen der französischen Protektoratsherrschaft in Tunesien dienten sowohl christliche Helden und Heilige wie der mittelalterliche Kreuzfahrerkönig Ludwig IX. als auch archäologische Zeugnisse der spätantiken Église d’Afrique als Mittel der Erinnerungspolitik. Sie verwiesen auf die historische Prägung der Region durch das Christentum vor der Islamisierung Nordafrikas und evozierten damit eine Kontinuität, die als Grundlage und Legitimation für die Wiederauferstehung des Christentums herangezogen werden konnte. Die kirchliche Erinnerungskultur kam derweil mit der Wiedererrichtung des spätantiken Bischofsitzes von Karthago 1884 nicht nur in institutioneller und zeremonieller Hinsicht zum Ausdruck, sondern wurde auch in der Errichtung der beiden Kathedralen Saint-Louis-et-Saint-Cyprien in Karthago (1884–1890) und Saint-Vincent-dePaul-et-Sainte-Olive in Tunis (1893–1897) sichtbar. Die Bauten bildeten das materielle Aushängeschild der französischen Erinnerungspolitik in Tunesien und stehen deshalb im Zentrum der Masterarbeit. Diese geht der Frage nach, inwiefern sich die erinnerungspolitische Inszenierung der christlichen Vergangenheit in der Innenund Aussenarchitektur sowie im Bildprogramm der beiden Kathedralen widerspiegelte und welchen Stellenwert demzufolge der Sakralbau im Rahmen der kirchlichen Erinnerungskultur einnahm. Um innerhalb dieser erinnerungspolitischen Strategien ästhetische Referenzen identifizieren und interpretieren zu können,wird die kirchliche Erinnerungskultur in Tunesien in einem ersten Schritt in den weiteren Kontext des französischen Katholizismus eingebettet. Es wird aufgezeigt, dass mit der Inszenierung der antiken Église d’Afrique als Urkirche nicht nur ein Bezug zur lokalen christlichen Vergangenheit hergestellt wurde. Sie diente darüber hinaus dazu, angesichts der zeitgenössischen Säkularisierungstendenzen eine religiöse und politische Kontinuität der französischen Kirche selbst zu erzeugen. Basierend auf diesen kirchenpolitischen Grundlagen wird im zweiten und dritten Teil am Beispiel der beiden Kathedralen in Karthago und Tunis im Sinne eines objektbezogenen Ansatzes auf die visuelle Umsetzung der Erinnerungskultur eingegangen. In Anbetracht der Überlagerung verschiedener historischer Epochen sowie machtund kirchenpolitischer Interessen wurde derweil ein hybrides Gemisch aus verschiedenen Baustilen, Sakralobjekten, Bildmotiven und symbolischen Referenzen sichtbar, das vielschichtige Assoziationen hervorrufen sollte und sich im Wesentlichen in drei erinnerungspolitische Strategien und Dimensionen kategorisieren lässt. Als erste und wichtigste Dimension ist jene der Wiederaufrichtung der Église d’Afrique zu bewerten, welche sich nicht nur wesentlich auf die christliche Archäologiepolitik, sondern in gleichem Masse auch auf das Motiv einer kultischen Kontinuität stützte, das sich insbesondere in der Glorifizierung der wichtigsten Afrikaheiligen und deren frühchristlichen Martyrien manifestierte. Gleichzeitig beschränkte sich die Wiederaufrichtung nicht nur auf die Église d’Afrique, sondern spielte angesichts der antiklerikalen Entwicklungen im Mutterland auch auf die Wiederaufrichtung der französischen Kirche und des Katholizismus im Allgemeinen an und fü hrte damit mit der Dimension der Versöhnung und Einigkeit einen zweiten wichtigen Aspekt der Erinnerungskultur in Tunesien ein. Wä hrend sich die Versöhnung und Zusammenarbeit zwischen katholischer Kirche und laizistischem Staat beispielhaft in der Symbolik der Innenausstattung, des Standorts und des Zeremoniells manifestierte, kam im Gegensatz dazu die von Charles Lavigerie (1825-1892) und Papst Leo XIII. gemeinsam vorangetriebene Einigung zwischen der franzö sischen Kirche und dem VatikanhauptsächlichimEngagementfürdenKampf gegen die Sklaverei zum Ausdruck, das wie das Motiv des Martyriums in der Innenausstattung beider Kathedralen eine prominente Rolle einnahm und im Kontext einer Glorifizierung von Mission und Barmherzigkeit auch als epochenü bergreifendes Verbindungselement wirken sollte. Parallel dazu wird jedoch besonders in der Kathedrale von Karthago die Anwendung einer gallikanisch geprägten Symbolsprache sichtbar, auf deren Grundlage die Wiederaufrichtung des Bischofsitzes von Karthago als historische Fortfü hrung der Anstrengungen des franzö sischen Kreuzfahrerkö nigs Ludwig IX. einerseits sowie des Heiligen Vinzenz von Paul andererseits inszeniert wurde. Zugleich sprachen politische und religiöse Interessen dafür, angesichts der Ordensund Nationalitätenkonflikte nicht nur eine Stä rkung des spezifisch französischen Elementes in Tunesien herbeizufü hren, sondern gleichzeitig über die Innenausstattung der Kathedrale von Tunis auch die Integration der heterogenen europäischen Bevölkerung von Tunis zum Ausdruck zu bringen. Die visuellen Strategien der kirchlichen Erinnerungskultur in Tunesien zeichneten sich also durch eine Überlagerung kontinuitäts-, versöhnungs und integrationsstiftender Verweise aus, welche die Etablierung der katholischen Kirche einerseits und der französischen Protektoratsherrschaft andererseits fördern sollte.